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Gedankenspiele


Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich –
aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln
und das Leben geht weiter,
als wäre man nie dabei gewesen.

(Karoline in Kasimir und Karoline, Ödön von Horvath)



Auf dieser Seite u.a.:  Kommentierte Erfahrungen einer Palliativpflegerin  /  Die unbestrittene Wichtigkeit sozialer Kontakte (eine Relativierung)  /  



Was wurde versäumt, was lief im eigenen Leben schief?
(Meine Kommentierung der Erkenntnisse einer Palliativpflegerin)

Zugegeben, keine verallgemeinerungsfähige Antwort auf diese Fragen ist möglich. Gleichwohl fand ich folgendes Ergebnis, das die Palliativpflegerin Bronnie Ware in ihrem Buch "The Top Five Regrets of the Dying" (sinngemäße Übersetzung: die fünf meistgenannten Dinge, die Sterbende bereuen, in ihrem Leben unterlassen oder zu wenig verfolgt zu haben) aufzeigt, interessant.

Demnach soll sich folgende Reihung ergeben:

1. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben.
2. Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.
3. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken.
4. Ich wünschte mir, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten.
5. Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.

Schaut man sich diese angeblich meist gehörten Aussagen einmal an, dann dürften die viertmeistgenannte Antwort sowie die fünfte in der Reihung kaum verwundern. Unstrittig ist, daß (gute, bereichernde, erfüllende!) Sozialkontakte gesunderhaltend wirken und allein schon deshalb anzustreben sind. Dies impliziert allerdings auch, Sozialkontakte wie sie nervenden Personen ausgehen, zu meiden. Dies ist leider freilich nicht immer und überall möglich. Was denn tun, wenn man auf eine Arbeit angewiesen ist, die von ekelhaften Vorgesetzten und mobbenden Mitarbeitern mitbestimmt wird -- vor allem, was dann tun, wenn keine alternative Arbeit zu finden ist, wenn man auf genau diesen Broterwerb angewiesen ist. Oder um die Zeichen der Zeit anzusprechen: Wenn das Übel unsozialen Verhaltens sich immer weiter krebsgeschwürartig ausbreitet, also zu einem Zeichen unserer Zeit und Lebensweise, unserer Sozialstruktur gerät ...
Aber der Wunsch nach extrem guten Kontakten ist sicherlich mit lebensbestimmend und dürfte bei Nichterfüllung einen defizitären Gefühls- und Erlebensmodus bedingen.

Wie aber steht es um die Klage, man hätte sich erlauben sollen, "glücklicher" zu sein? Da sind wir mitten in der Sphäre von Lebensphilosophie. Und zugegeben, wer außer einem erklärten Masochisten strebt denn schon nach dem Unglücklichsein ...
Aber: Was ist das denn -- dieses "glücklich zu sein"? Wir bewegen uns hier wohl auf einem Feld unzählig vieler möglicher Antworten, abhängig von der jeweils individuellen Sicht- und Empfindungsweise! Was dem einen (zugegeben minimalistisch ausgerichteten) Seins-Wesen längst genügt, nämlich der Platz in der Tonne, bestrahlt von leuchtender Sonne (Wir erinnern uns: Diogenes von Sinope soll, in der Tonne sitzend, auf die Frage Alexander des Großen, welchen Wunsch er denn erfüllt bekommen möchte, gesagt haben, er solle ihm aus der Sonne gehen ...  --- Alexander soll übrigens geantwortet haben: Wäre ich nicht Alexander, wollte ich Diogenes sein. --- Auch wenn diese Begebenheit wissenschaftlich alles andere als belegt ist, ist diese "Begegnung" doch ein gutes Beispiel für Genügsamkeit gegenüber der sonst herrschenden künstlichen Begierden und Nimmersattheit.), ist dem anderen die ununterbrochene Vorteilsnahme in Amt und Würden oder auch nur im "normalen" Alltag, das Streben nach unendlich scheinender materiellen Befriedigung.
So gesehen, dürfte das Bedauern mangelnden "Glücks" am Ende aller Tage für die allermeisten Menschen ein durchaus aufzeigbarer "Normalzustand" sein und nur wenige dürften sich in dieser Hinsicht zufrieden geben können.

Punk 2 spricht für die nicht gerade an Workaholic leidenden Zeitgenossen, aber auch für diejenigen, die sich ihr ICH nur oder überwiegend aus den Quellen lohnabhängiger Arbeit speisenden Erscheinungsformen (man denke beispielsweise an Sublimierung, Geltungssucht, Machtgelüste, Omnipotenzphantasien, "Anerkennungsgelüste") definieren können, eine Selbstverständlichkeit an: Man sollte nie und nimmer ein ausgewogenes Verhältnis von Fremdbestimmung und Eigen-Sinn zulassen und leben. Aber auch hier sind wir schon wieder mit dem konfrontiert, was man gemeinhin als Güterabwägung, subjektiven Präferenzen unterworfen, bezeichnet. Entscheidend ist nämlich, wie das eigene Fühlen zu dem Wert seiner Tätigkeit sich generiert und nicht, was tatsächlich oder scheinbar objektivierbare Sachverhalte anzudeuten vermögen.

Für mich wurde es von KIndheit an schon immer zunehmend deutlich: Niemals möchte ich mein Leben fremden Forderungen, lohnabhängiger Arbeit, fremden Denkmustern ohne eigene Durchdringung und somit "blinder" Übernahme (also letztlich: heteronome Bestimmung als Maxime gegenüber anzustrebender Eigenständigkeit und Benützung des eigenen Geistes!) willen- und bedingungslos unterwerfen.
Dabei gehört freilich zu diesem emanzipatorischen Streben das Mühen um materielle Unabhängigkeit (was man heute als "hartzen" so leichtfertig als Lebensmuster in gewissen Kreisen lebt wäre mir abscheulich und unmenschlich erschienen -- wohlgemerkt: ich rede bei dieser Kritik nicht von den Fällen unverschuldeter Not, aber von denen mißratener "Tugenden" ...), um das Bestreiten des eigenen Unterhalts (sowohl in materieller als auch in ideeller Hinsicht!).

Aber bei aller Subjektivität: Man sollte sich auch dann, wenn man im Gegensatz zu meiner Ansicht glaubt, die Arbeit in unserer Gesellschaft verschafft ein über die materiell notwendige (also: man arbeitet, um Geld für das Bestreiten des eigenen Lebens zu verdienen.) Befriedigung vor allem auch ein größeres sinnstiftendes Erleben, gründliche Gedanken über den wirklichen Wert lohnabhängiger (oder wie auch immer mit Bezahlung kompensierter Tätigkeit) machen. Vielleicht dergestalt: Kann es mein Leben fundiert ausmachen, mich mit Leib und Seele überwiegend dem beruflichen Tun zu verschreiben. Also fast schon faustische Dimensionen, die da dem (denkenden) Geiste abverlangt werden ...

Es wäre doch wirklich ein Trauerspiel, müßt man so kurz vor dem Tode klagen, man habe zu viel gearbeitet, sich zu sehr der Arbeit verschrieben. Aber eine Bedeutung hätte diese Klage dann sicherlich, von ihrer psychischen Jammerlage einmal abgesehen, nicht mehr. Also: beizeiten entsprechend denken und handeln!

Hätte ich doch den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken (Punkt 3)! Ach, was soll diese Klage. Wie könnte sie jenen helfen, die es niemals verstanden haben, sich an dem Leitfaden des "Und fühlt ihr es nicht, ihr könnt es nicht erjagen!" zu orientieren, um diesen Weg zu ringen. Wer es niemals beizeiten "gelernt" hat, der Gefühlswelt den angemessenen Platz einzuräumen und den gemäßen Weg zu ebnen, dem war ohnehin nie zu helfen.
Armseligkeit im Verstecken, im Verbergen, im Verzichten, im Geben und im Nehmen! Welche Armut steckt denn wahrlich hinter den Verhaltensweisen, die heutzutage vielerorts mit der neudeutschen Vokabel "wulffen" oder ähnlichen Sprachmerkwürdigkeiten ( eben auch dieses: hartzen, chillen, Geiz ist geil, Nachhaltigkeit -- der Begriff kann ja nichts dafür, daß er so verlogen verwandet wird! --, all den ekelfhaften Euphemismen aus den vielen dummen Mäulern und Hirnen, etc.)! Auf dem Totenbett zu jammern, man habe seine Gefühle nicht gelebt ... Ach, haben diese Leute denn überhaupt "gelebt"? Waren sie nicht eher zeitlebens all jenen zumindest ähnlich, von denen es im bekannten Lied heißt "I see a lot of people running around with tombstones in their eyes"? Leben ohne Gefühle -- ist / war das überhaupt Leben? Ich meine über das vegetative Dasein hinaus? Wohl eher nicht!

Also gar nicht so verwunderlich, daß an erster Stelle all der Klagen der Seufzer nach dem fehlenden Mut, das eigenen Leben gelebt zu haben, steht. Allerdings wird hier übersehen: jene haben ja das "eigene Leben" gelebt. Welchen Mut beklagen sie denn? Daß sie keinen Widerstand dem entgegen setzen konnten, was sie fremdbestimmt ihre gegebene Zeit zu leben zwang? Daß sie sich diesen Zwängen bereitwillig, unkritisch unterordneten? Daß sie den ewigen Kampf zwischen dem, was ist und dem, was sein soll, ausgewichen sind? Daß sie sich spürbaren relativen Schmerz ersparten, um folglich andauernden verdrängten Schmerz zu leben? Daß sie sich niemals um den notwendigen Mut als Voraussetzung, als Werkzeug für ein "anderes Leben", eben: für ein erfülltes, bemühten?

Ja, am Ende der Tage sind alle diese "Hätte-ich-dochs" nur eine Umschreibung der dann für allzu viele Menschen sinnvollen, weil zutreffenden, Grabinschrift "Dort unten ruht mein ungelebtes Leben!" Und der Satz ist dann bekanntlich auch schon wieder eine Unterstellung; weil eben im Klagen dieses Leben letztlich als nicht "richtig gelebt" kategorisiert wird. Man sollte eben auch für das (Be-)Klagen den richtigen Zeitpunkt wählen, damit dann so gegebenenfalls die Dinge rechtzeitig in ihrer Wesentlichkeit geordnet werden können.

Geben wir abschließend dem "Tonnenphilosoph" nochmals das Wort: "Auf der Jagd nach Vergnügungen um jeden Preis werde ihr (das der entsprechenden Menschen, der Sklaven, Anm. d.V.) Leben immer freudloser und mühsamer, und während sie glaubten, für sich selbst vorzusorgen, kämen sie vor Sorge und Voraussicht erbärmlich um." (zit. n. Dion Chrystostomos VI, 29)
Diogenes hat meines Erachtens zu Recht die Bequemlichkeit als Ursache für die künstlichen Bedürfnisse gesehen; Bequemlichkeit werde mit Freiheit verwechselt, die Sucht und Suche nach zivilisatorischen "Errungenschaften" nach vorgeblich genußvollem Leben mündet letzten Endes in der Sorge um den Verlust des Errungenen, damit in der Unfreiheit. Kommt irgendwie bekannt vor?! Na denn, fangen wir an zu überlegen, andere Grenzen zu setzen und zu bestimmen, oberflächlichen Lockungen und Versprechungen zu ächten und zu bekämpfen, falsche weil pharisäerhafte Vorbilder und selbsternannte oder auch (dummerweise) gewählte Stellvertreter in ihre Schranken zu weisen!

Sollten nach all diesen Ausführungen gerade die Puritaner nun zu frohlocken anfangen, dann möchte ich jene warnen: Kasteiungen sind meine Inhalte nicht. Auch nicht die von Diogenes. Er soll bekanntlich ja einmal angesichts seiner öffentlichen Masturbation auf dem Marktplatz geäußert haben: "Wie schön wäre es doch, wenn man auch durch das Reiben des Bauches des Hungergefühl vertreiben könnte!" Der Kommentierung von D. Laertius folgend, nämlich "Nichts von dem, was lebensnotwendig ist, ist schändlich für die Sterblichen.", kann man das Bestreben von Diogenes von Sinope erkennen, Ratio und Physis in einen Einklang zu bringen; die animalischen und natürlichen Bedürfnisse des Menschen sind nicht aufhebbar, also eine Einheit, weil sie existenziell sind.

Damit stellt sich zuletzt auch die Frage, weshalb eigentlich nicht gelebte sexuelle Bedürfnisse einen "Top-Platz" in der Klageliste der Sterbenden eingenommen haben. Schwer vorstellbar, daß bei der Fünfer-Klage-Hitparade des Bedauerns in der konkreten Lebensgestaltung das Sexualleben auf die berechtigte Kost(en) gekommen ist ...

Und was lernen wir aus alledem (sofern wir überhaupt lernen wollen ...) immer wieder: Carpe diem! Oder um gänzlich banal (aber nicht selten sorgt gerade die Banalität für Klarheit und Klarsicht, nicht zuletzt weil umfassender und weitverbreitet verständlich!) zu werden -- mit einem alten Kristofferson Song -- : "I'd rather be sorry for something I've done than for something that I didn't do."
Allerdings sollte auch hier die alte Weisheit nicht so ganz ubeachtet bleiben: "There's a time and a place for everything!" (etwas gekürzt und salopp: Alles zu seiner Zeit!). Und ob das Jammern über (vielleicht) Versäumtes so kurz vor dem Ende seinen "richtigen" Platz, seine "angemessene" Zeit findet, sollten jeder und jede sich beizeiten im "Vorfeld" des Geschehens schon mal reiflich überlegen ...

"Ich glaube, daß das Reisen eine unserer größten Glücksphantasien ist."
(Alain de Botton )



"Warum reisen wir? Damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich ist."

 (Max Frisch, Tagebuch)

Sie kennen gewiß auch Menschen, die jene reduzierte Geisteskraft kennzeichnet, bei beginnenden Äußerungen mit dem Satz "Ja, ich weiß schon, was Du sagen willst." jegliche Sinnhaftigkeit eines Gesprächsversuches mit ihnen ad absurdum zu führen. Jene "wissen" bereits, was sie zu wissen vorgeben. Ähnlich verhält es sich, wenn eine Frau meint, sie gründe ihr "Wissen" auf "weibliche Intuition", ist jedoch für ein adäquates Urteil bar jeglichen Faktenwissens. Auch in diesem Fall bleiben Diskussionsversuche sinnlos, geht es doch hier faktisch nicht um ein sich analytisches Vorgehen zur Annäherung an Wahrheit und Wirklichkeit. Aber auch für eine deduktive Vorgehensweise scheint jener Typus untauglich, kennt er doch überhaupt keine allgemeine Gesetzlichkeit, die Subsumtion zuließe. Leider findet man jenen Menschentypus allzu häufig, vor allem auch: immer und überall. Man braucht sich bei dieser Beobachtung hier nicht auf den privaten oder beruflichen Bereich zu beschränken, die Medien liefern in ihren Ergüssen (vor allem in sog. Talkshows -- der Name scheint schon Programm zu sein ...) ausreichend Beispiele, um eine weitreichende Diskussionsunfähigkeit auf allen Ebenen konstatieren zu können. Schriftsteller werden hier nun fündig, bei wacher und umfassender Aufmerksamkeit purzeln die Mosaiksteine verwertbarer Abstrusitäten geradezu vom Himmel (sprich: aus den Köpfen, aus Mimik, aus Gestik und aus anderen Vorzeigeformen menschlicher Selbstdarstellungskünste).
Hier setzt man nun an, formt die jeweils brauchbaren Charaktere für einen Handlungsstrang, der ebenfalls dem wahren Leben abgeschaut ist. Wir nähern uns einer geradezu seismographischen Wahrnehmung dessen, was Glaubwürdigkeit auszumachen scheint, jenem Spagat zwischen dem Streben (sofern überhaupt vorhanden!) nach Identität einerseits und dem künstlichen (fremdbestimmten, marionettenhaften) Ich-Bemühungen auf der anderen Seite. Wie immer die Ergebnisse hier dann auch ausfallen mögen, wo immer man seine eigene Position in diesem Prozeß wiederfindet: es findet im Regelfall (zumindest bei konsequentem Verhalten hinsichtlich gewonnener Einsichten!) eine Trennung statt -- die Trennung dessen, was man sich vom Leibe halten möchte und den Dingen sowie Personen, mit denen man Wege beschreiten kann.
Jedenfalls ist es nicht jedermanns Sache, mit praktizierter Täuschung in Form von internalisierter Wahrnehmungsreduktion, seine wertvolle Zeit vergeuden zu müssen. Kurz: Es geht auch um die Erkenntnis und deren praktische Umsetzung, was man sich zumuten möchte und was nicht. Ich jedenfalls verweigere "Diskutanten", die im Vorfeld schon immer wissen "was man sagen möchte", also jenen spekulativ Tätigen, jedenfalls meine Zeit. Es gibt Besseres, es gibt Wertvolleres. Schreiben also als ein Beobachten von Zuzustimmenden und Abzulehnendem, dies in ein lesbares Gefüge zu setzen und dabei sicherlich auch menschliche Schwächen und Unzulänglichkeiten ein wenig ihrer "Schärfe", ihres "Überdrusses" zu entkleiden...

"Was man das Glaubwürdige nennt, (...), ist nichts weiter als die Übereinstimmung des Anscheins mit dem, was wir uns wünschen. Statt des Bruchs  in unserer Wahrnehmung eine nahtlose Oberfläche, die wir irrtümlich als das Natürliche bezeichnen."
(Barbara Bongartz, Die Schönen und die Reichen, Frankfurt a. Main 2011, Seite 160 f.)

Jene, die derart verfahren oder sich nicht wenigstens stetig um die Vermeidung derartiger Vereinfachungen in der Wahrnehmung eifrig bemühen, gilt es zu fliehen, allerdings nur was den "engen Kontakt" angeht; weil sie jedoch eben auch ein maßgebliches Stück sozialer Wirklichkeit ausmachen, muß man sie durchaus zur Kenntnis nehmen, darf man sie nicht ignorieren, ihnen vor allem nicht das Feld überlassen! Und dazu können Schriftsteller, so sie es denn wollen, einen wertvollen Beitrag leisten.


Es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorauszusagen, sondern darauf, auf die Zukunft vorbereitet zu sein.

Perikles




Die Wichtigkeit sozialer Kontakte und partnerschaftlicher Bindungen für die Qualität des eigenen Lebens
(hier dargestellt unter dem Aspekt einer unverzichtbaren Relativierung)

Grundsätzlich gilt natürlich: Der Mensch ist als soziales Wesen auf Sozialkontakte angewiesen. Diese Notwendigkeit umfaßt freilich nicht nur den sozialen Bereich, sondern gerade auch andere Sphären, insbesondere die berufliche, verbringen die meisten Menschen gerade im Berufsalltag doch einen Großteil ihrer Zeit.

Sozialkontakte sind vor allem auch notwendig, um emotionale Intelligenz sowie die Qualität der Gedächtnisleistungen auszuformen und zu fördern.
Im Austausch mit anderen Personen entstehen erst die Herausforderungen und Anregungen, die eine bei zahlreichen Menschen zunehmend überwiegend medial orientierte Lebensweise nicht in diesem geforderten Umgang bieten kann. Medienkonsum als auch Internetaktivitäten sind diesbezüglich allenfalls als ergänzend wirkende Einflußfaktoren zu sehen, keinesfalls als gleichwertiges Substitut.

Viele Untersuchungen unterstützen die These von einer Unverzichtbarkeit sozialer Kontakte. Sie verweisen auf die Bedeutung bezüglich der jeweils eigenen persönlichen Entwicklung, der Entfaltung von Kompetenz und Performanz.

Betrachten wir einmal die Gedächtnisleistung in diesem Zusammenhang. Vor dem Hintergrund der unzähligen Angebote zur Verbesserung der Gedächtnisleistung (seien sie nun medikamentöser Art oder unter dem Rubrum “Gehirnjogging” zu fassen), wird der Gedanke kolportiert, damit könne bereits der Weg der Weisen beschritten werden. Sozusagen der Königsweg gegen Vergeßlichkeit, Zerstreutheit, Begriffsstutzigkeit, Desorientierung bis hin zu Demenz. Dies scheint jedoch ein Irrweg zu sein. So faßt Florian Schmiedek (Professor, Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt) seine Ergebnisse hinsichtlich Verbesserung und Erhaltung der Gedächtnisleistung, der Gehirnaktivität kurz und bündig zusammen: “Das Gehirn läßt sich nicht wie ein großer Muskel trainieren.” Erfolgreich seien vielmehr “anspruchsvolle Hobbys”, ein “aktiver Lebensstil”.
Bei Tätigkeiten, die man unter “Gehirnjogging” subsumieren kann (wie beispielsweise: Sudoku, Kreuzworträtsel, Memory, Memorieren einer Anzahl von vorgegebenen Wörtern im Rahmen eines Assoziationskontextes, Wiederholung beispielsweise von am PC vorgegebenen Inhalten für Merktests, etc) erfährt man sicherlich einen Lernzuwachs auf dem jeweils angewandten Gebiet, erreicht im optimalen Fall sogar eine “Meisterlichkeit” auf eben jenem begrenzten Sektor, nennenswerte Transferleistungen für den Alltag dürften damit jedoch nicht erzielt werden.
Die bei diesen (eindimensionalen) Spielarten erlernbare und erlernte Strategie ist in der Regel nicht dienlich zur Lösung anderer Aufgaben. Es geht ihnen die Transferqualität ab. Den verheißungsvollen Versprechungen, durch regelmäßiges Gehirntraining die Zellen (wieder) auf Leistung zu trimmen, sollte grundsätzlich mit Skepsis (und damit: mit der adäquaten Einsparung “hinausgeworfener” Mittel und der Vermeidung unnötigen Aufwands) begegnet werden.

Andreas Fellgiebel, Professor in Mainz, hat mit Senioren einen Monat lang intensiv Aufgaben mit logischem Inhalt trainieren lassen. Was wurde verbessert? Eben (leider – das im Gegensatz zur Erwartungshaltung vor dem Versuch) nur das logische Denken der Probanten. Das aber auch nur bei 9 von 40. Die untersuchte Population bestand übrigens aus überdurchschnittlich intelligenten Personen; die Intelligenz war natürlich vor Beginn der Untersuchung gemessen worden.
Laut Fellgiebel ist das “Arbeitsgedächtnis” in seiner jeweiligen Qualität (er vergleicht das mit dem Arbeitsspeicher eines PCs, in dem Informationen kurzzeitig verarbeitet werden) als “Voraussetzung für jegliches Lernen” eine Grundvoraussetzung. Dies hat er in einem weiteren interessanten Versuch aufzeigen können: Über Fünfundsiebzigjährige schnitten bei vorhandenem guten Arbeitsgedächtnis in ihren Lernleistungen genauso gut ab wie andere Jahrgangskohorten. Andere Probanten der über Fünfundsiebzigjährigen, diese jedoch mit einem schlechten Arbeitsgedächtnis, lernten viel schlechter als jüngere. Damit ist auf die Bedeutung des Aktivbleibens im Leben deutlich hingewiesen.
Das Arbeitsgedächtnis ist im Alltag wegweisend (für die Qualität des eigenen Verhaltens, für die Alltagsstrategien, für Problemlösungsverhalten, für Analytik, für Gesprächsführungen, für Planungen, etc.) und Defizite zeigen sich bei Vergeßlichkeit, bei Konzentrationsschwächen, bei Tendenzen zur Ablenkung (vom eigentlich Intendierten der jeweiligen Alltagshandlung). Hier gibt es sicherlich auch PC-Spiele, die hilfreich gegen dieses Phänomen der Vergeßlichkeit steuern helfen können; besonders – aus der Vor-PC-Zeit ... – zielführend ist da auch zum Beispiel Schachspielen ... (Man braucht also nicht immer “Materialschlachten”, um zum Erfolg zu kommen – ganz im Gegenteil: oft ist weniger dann mehr.) Hierzu  Professor Niedeggen, Neuropsychologe an der FU Berlin): “Schachspielen ist eine Arbeitsgedächtnis-Übung wie aus dem Lehrbuch.” Er schlägt zur Forderung des Gehirns mit dem Ziel die geistige Leistungsfähigkeit zu steigern unter anderem das Erlernen einer Fremdsprache oder das Lernen eines Musikinstruments vor, weil hier eine umfassende Forderung und Förderung zugrunde liegt. Grundsätzlich gilt nach seiner Auffassung: “Alles ist gut, was neu ist und einen dazu nötigt, aus Automatismen auszubrechen.”

Die reduzierte Wirkung von gezieltem Gehirnjogging unterstreicht auch Manfred Spitzer, Psychiater und Professor, er leitet in Ulm das Transferzentrum für Neurowissenschaft und Lernen): “Wir wissen mittlerweile, dass das Zurückgreifen auf bekanntes Wissen unser Gehirn nicht wirklich auf Trab bringt. Vergessen Sie also Kreuzworträtsel und Sudoku. Wir wissen weiterhin, das spezielle Fähigkeiten, die man sich am Computer antrainiert, nicht auf Alltagssituationen übertragen werden. Hierzu gibt es große Untersuchungen, die beispielsweise zeigen, dass wenn man ballert, dann lernt man eben ballern und sonst nichts.” (A Z, 23. Juli 2012, S. 21, Rubrik Gesundheit).
Spitzer meint, daß “die aktive Teilhabe am Leben selber, vor allem mit anderen Leuten gemeinsam” die “Vorbeugung gegen Abnahme geistiger Leistungsfähigkeit” sei. Er schlägt die Beschäftigung mit Enkeln vor (ggf. “ausleihen”) und meint – wohl in Teilen nur süffisant – man solle Kreuzfahrtschiffe und Golfplätze meiden, denn “dort wird man dement”. Auch er plädiert für Tanzen (wie andere Wissenschaftler) zur Vorbeugung gegen Abbau geistiger Leistungsfähigkeit.

So weit so gut, so auch alles richtig, sicherlich auch im Grundsatz zielführend. Allerdings mit dem (üblichen) starken Hauch akademischer Abstraktion.

Was hier bei allen Ansätzen nämlich stillschweigend vorausgesetzt wird, ist eine zumindest gewisse positive, höhere Qualität der Sozialbezüge.
Wer jedoch am Arbeitsplatz schon Mobbing erlebt hat, wer von all den Hinterfotzigkeiten im sozialen Kontext weiß, wer die zeitstehlende und nervende Wiederholungsleiern bei Vereinsmeiereien kennt, wer um die künstlich aufgebauschte Wichtigkeit von Nichtigkeiten in vielen sozialen (Zwangs-)Gruppierungen weiß (da muß ich doch zum wiederholten Male meinen Bob Dylan zitieren: “Don’t tell me nothing about nothing, I just might tell you the truth!”), wer das eitle Gerangel um Aufmerksamkeit (sei diese nun berechtigt oder gar ohne jegliche Substanz!) nicht nur im horizontalen sondern zuvorderst meist im vertikalen Gefüge erfahren hat oder erfährt, der wird wohl kaum umhin können, gerade die aus psychologischer Perspektive in Abstraktion gesehenen und geforderten Sozialkontakte hinsichtlich der Qualität jeweiliger Sozialbezüge zu gewichten.
Kurz: Schlechte Sozialbezüge sind sicherlich kontraproduktiver als gar keine, Ausgesetztsein dem Mobbing ist sicherlich nicht gesundheitserhaltend und geistesfördernd, Chefs oder Chefinnen mit fehlendem Abstraktionsvermögen und mangelnder Emotionalität dürften wohl kaum einer geistigen Bereicherung dienlich sein.
Oder aber –  und davon könnten sicherlich unzählige Paare ein Lied singen (so sie es denn erkennen wollten oder könnten) – all jene die in oft merkwürdigen Dyadenfehden verhaftet verharren, lieber leiden und granteln als sich um eine gesunde Lösung zu bemühen, ja all die dürften in jenen ewigen Auseinandersetzungen (bis hin zur besonderen Form der Auseinandersetzung: Gleichgültigkeit, Resignation) kaum etwas für geistiges Wachstum tun.

Es ist also auch hier, wie so oft, die Qualität die zählt, die (dann vielleicht auch wissenschaftlich) meßbar wird. Und hat sich jemand in diesem Zusammenhang schon einmal jemand Gedanken um all die gemacht, die ohne “große Sozialkontakte” ein langes, erfolgreiches und vor allem auch geistig ausgefülltes und emotional reiches Leben bewerkstelligt haben bzw. gestalten. Und wie steht es gar um Eremiten (deren Existenz, wenn auch nicht zahlreich, nicht geleugnet werden kann)?!

Ich persönlich halte es so: Lieber keine sozialen Kontakte als langweilige, nicht forderende, im Status Quo beharrende, nur Zeit stehlende, vor allem auch keine die vorwiegend die Qualität von “Kompensation”, Nicht-allein-sein-können, u.ä. ausweisen.
Es geht also ganz im Gegenteil um “wertvolle”, “bereichernde” (selbstverständlich nicht im Sinne von materieller Bereicherung gedacht!), “wirklich fordernde”, von ehrlicher Empathie getragene Begegnungen und Auseinandersetzungen. Wie der Einzelne das jeweils definiert und erlebt ist freilich überwiegend eine sehr subjektive Wertentscheidung.
Ich will nicht in Abrede stellen, daß eine Gruppierung in jeglicher Hinsicht “einfach gestrickter” Personen einen tollen Abend über unmäßigen Biergenuß bei (aus meiner Sicht) extrem seichten und dümmlichen Gesprächen erlebt, alle nach baldiger Wiederholung schreien und sehr glücklich und zufrieden nach Hause gehen, sich durch dieses Erleben auch gefordert und anerkannt fühlen, jeweils auch das Empfinden von “geistigem” und “seelischem” Glück mitnehmen. Eben: sehr subjektiv.
Der Weg auf diese (niedere, wieder nur aus meiner Bewertungsperspektive!)  Ebene ist jedoch zumindest dann versperrt, wenn man einmal “anderes” (= qualitativere Erlebensebenen) verspürt hat (ähnlich der Aussage des Kapitäns im Seewolf, daß sein größter Fehler gewesen wäre, jemals ein Buch aufgeschlagen zu haben, daß es aber nun keinen Weg “zurück” mehr gäbe, er nur immer weiter fortschreiten könne.).

Ob also Sozialkontakte  – so gesund und unverzichtbar sie hinsichtlich einer auf Zufriedenheit ausgerichteten Lebensgestaltung sein mögen – auch tatsächlich so wirken, wie es unter optimalen Bedingungen nachweisbar ist, hängt im Wesentlichen davon ab, ob sie fruchtbaren Humus bereiten oder nur Ödland zur Verfügung stellen. Sind die potentiellen Träger jener Sozialkontakte jedoch von unzureichender Qualität, dann kann man jene Sozialkontakte nicht einmal als notwendige Bedingung für geistig-seelische Fortentwicklung erleben, geschweige denn als hinreichende.