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Rezensionen


Die besprochenen Bücher:

1 Dagmar Leupolds Roman "Die Helligkeit der Nacht" (C.H. Beck)


2 Hans-Olaf Henkel, Die Abwracker. Wie Zocker und Politiker unsere Zukunft verspielen. (Heyne)


3 Fleur Jaggy, Die seligen Jahre der Züchtigung (btv)


4 Bernard Bueb, Lob der Disziplin (List)


5 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab (dva)


6 Claudia Bayerl,  30 Minu-ten für Kreativitätstechniken. (Gabal)


7 Karl Lauterbach, Der Zweiklassenstaat: Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren. (rowohlt)


8 Lotte Kühn, Supermuttis. Eine Abrechnung mit den überengagierten Müttern. (Droemer)


9 Hendryk M. Broder, Kritik der reinen Toleranz. (wjs)


10 Martin Suter, Die Zeit. Die Zeit


11 Eva Müller, Gott hat hohe Nebenkosten


12 Thorsten Hinz, Der Weizsäcker Komplex


13 Tanja Steinlechner, Wahrheit oder Lüge


14 Liebesgedichte und erotische Gedichte, Flexible Literture Verlag


15  Amalie Skram,  "Professor Hieronimus"  und "In St. Jorgen" (Guggolz Verlag Berlin o.J., )


16 Adrian Naef, Die Städter


17 Joseph von Westphalen (revisited)

18 demnächst






1 Die Helligkeit der Nacht. Ein Journal. Roman    von Dagmar Leupold

Nie und nimmer Heinrich von Kleist, dafür “nur” Dagmar Leupold ...

Wer Kleist schätzt, seine wuchtige und klare Sprache liebt, wer seine poetischen Bilder kennt, und nur aus diesen und anderen auf Kleist bezogenen Gründen das Buch lesen möchte, dem dürfte Enttäuschung garantiert sein.
Will man sich jedoch von einer fiktiven Idee (eben des Gedankenaustausches zweier imaginärer Personen, im Buch als Kleist und Meinhof benannt) geleitet auf eine Auseinandersetzung über Sinnfragen, Lebensgestaltung, Verantwortlichkeit, und persönliche Schwerpunktsetzung einlassen, dann kann das Buch durchaus mit Gewinn gelesen werden.
Klar dürfte jedenfalls werden: Man liest Dagmar Leupold, sowohl in allem, was sie Kleist in den Mund (in die Schrift) legt als auch in den Repliken einer erfundenen Meinhof. Hier wurden überwiegend wohl eigene Gedanken und Überlegungen in U. Meinhof, vor allem aber (allein schon wegen der Quantität der Äußerungen!) in Kleist hineinprojiziert.
Übrigens neu ist die Idee, derartige historische Bezogenheit zu konstruieren nicht, insofern übertreibt der Klappentext oder auch Leupold selbst, wenn sie sagen läßt: “Auf die Idee muss man erst einmal kommen! Während die anderen arbeiten und schlafen, ergeben sich Verbindungen, die ihnen Albträume bescherten, wüssten sie davon.”
Wenn Leupold in einem Interview im BR sagt, es handele sich hier um “exotische Ideen”, wenn sie feststellt “Sprachräume tun sich auf” und die Konzeption von Gestalt sei Aufgabe der Phantasie der Leser, dann weist sie schon in die Richtung, wie mit “Die Helligkeit der Nacht. Ein Journal. Roman” umgegangen werden kann: Auseinandersetzung mit Kontexten (persönlich, sozial und politisch – so auftrennbar wohl nur aus vereinfachender analytischer Untersuchungsperspektive) und ein Bemühen um die jeweils subjektive Verortung in jenen Vernetzungen.
Sprachlich ist das Buch stellenweise anstrengend zu lesen. Dies liegt einerseits daran, daß immer wieder wenig in die Tiefe gehende, stellenweise penetrante,  pädagogische Zeigefinger den Weg zu weisen sich bemühen (aber für besseren Tiefgang kann man ja durch diesen kognitive Dissonanz erzeugenden Sachverhalt dann gut selbst sorgen), stellenweise Sprache sich in vagen Andeutungen ergeht (und so ihren Mitteilungscharakter stark einbüßt – was freilich wieder anregend sein kann, aber die Frage aufwirft, ob diese so ausgelöste Beliebigkeit im Sinn eines Autors sein kann), teilweise gleichsam “professorale Gescheitheit” suggeriert (was den ansonsten doch recht klug gewählten Duktus stört, ohne dies aus dem geschilderten Geschehen zwingend werden zu lassen). Geradezu hinterfragwürdig sind viele Sprachbilder (die vor allem alles andere bewirken dürften als Assoziationen zu Kleist herzustellen). Dem sonstigen Niveau des Buches sind Aussagen wie “das eisschleckende Städtchen” (Schilderung eines Aufenthaltes in Naumburg an der Saale), “die Flüsterpost der Ungeflügelten” (wohl eher eine Pseudo-Kleistsche Imitationsakrobatik), “Die Flanken der Hügel atmeten verhalten”, “Die Felder liegen in satter Starre”, “vor mir schlief die Tischtennisplatte” u.v.m. wohl eher abträglich. Daß es auch sprachlich  (wohl auch authentischer) durchgängig, stringent, besser geht, hat Christa Wolf in ihrem literarischen Konstrukt der Begegnung von Heinrich von Kleist mit Karoline von  Günderrode (Kein Ort. Nirgends) bewiesen. So kann man sehr leicht auch zu dem Schluß kommen, daß die für das Buch gewählten Personen austauschbar sind, daß vereinfacht gesagt, irgendwelche zwei gescheite und zweifelnde und ringende, um Fragen und Antworten gleichermaßen bemühte Charaktere, jedoch dann “namenlose” (also ohne jegliche spektakuläre Berühmtheit aufweisende)  ebenso den Zweck erfüllt hätten.
Warum also zum jetzigen Zeitpunkt dieses größtenteils zu Unrecht mit Kleist-Bezug  “werbende” Buch? Drängt sich der Verdacht auf, es könnte mit dem “Jubiläumsjahr” (200. Todestag am 21. November 2011) zusammenhängen? Erscheint die Autorin nicht selbst am Schluß ihres Buches in einem sich selbst zugeschriebenen Bezug zum großen Dichter, wenn es beim Augenschein der Außenanlage von Stammheim und dem Erkennen der wiederholt im Buch aufgetauchten Frau im Schottenrock heißt: “Die Frau bleibt stehen, immer wieder, wendet sich, schaut, notiert. Wir teilen den Augenschein. (...) Und wir setzen den Weg fort, ihr helles Haar bleicht aus, der bunte Rock verschwimmt zu unbestimmten Flecken, die Stiefel berühren den Schotter nicht mehr und die grauen Mauern zu unserer Rechten bekommen weiche Umrisse ohne dass etwas in die Ferne rückt. (...) Halt! Ich muss mich eilen, der blonde Schopf, der mich führt, ist nur mehr ein schwacher Schimmer gegen die aufreißende Wolkendecke. Ich setze nach.” Damit dürften die Akzente tatsächlich zurechtgerückt worden sein. Es wäre wirklich interessant zu erfahren, mit welchem tatsächlichen Bedürfnis Dagmar Leupold ihren Kleist konstruiert hat und warum gerade so, daß er größtenteils bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Im o.g. Interview hat die Autorin ebenfalls gesagt: “Sprache bildet nicht nur Bewußtsein ab, sondern schafft Bewußtsein” (was sicherlich unbestritten ist) und so gesehen empfindet sie Kleist als “modern” (worin ich ihr auch zustimmen möchte). Aber die Person, die sie “geschaffen” hat, ist eben kaum noch jener Heinrich von Kleist der in ihrem Sinn modern ist, sondern in Teilen bis hinein ins Kitschige verfremdet erscheint. “Lieber Kleist (...) , Sie geraten doch gelegentlich in gefährliche Nähe zum Kitsch. Und der sichert und bestätigt immer die herrschenden Verhältnisse”, läßt die Autorin ihre Meinhof einmal sagen. Insoweit dürfte sogar das stellenweis Kitschige in “Die Helligkeit der Nacht” intendiert gewesen sein, freilich auf Kosten noch weiterer Entfernung von der Person, um die es groß angekündigt eigentlich auch gehen sollte ...
Jedenfalls erscheint mir vor diesem Hintergrund die Verlagseuphorie “Auf der Höhe ihrer Sprachkunst überschreitet sie mühelos die Grenzen unserer Vorstellung” (Umschlagrückentext) als sehr ambivalent und auch wenig durchdacht. Vielleicht hätte man seitens Lektorat doch besser die Aufmerksamkeit der richtigen Wiedergabe von Originalzitaten (gerade weil sie überhaupt nicht zahlreich sind!) gewidmet als derartiger (zudem fragwürdiger) Hybris; denn auf Seite 92 dürfte wohl kaum das Kleistsche Original “dämonenhaft” durch “damönenhaft” zu ersetzen sein.  Und wem könnte wohl auch eine Aussage wie “(...) könnte ich noch einmal wählen, ein Amt wählen, ich würde Baumphilologe werden! Also furchtloser Übersetzer meiner Fingerspitzen.” (S. 65) eher zugeordnet werden, einem bis zur Unkenntlichkeit deformierten Kleist oder auch selbst hier noch der bloßen Phantasie einer krampfhaft um Sprachimitation bemühten Autorin?



2 Die Abwracker. Wie Zocker und Politiker unsere Zukunft verspielen  von Hans-Olaf Henkel

 Herausragend!

Hans-Olaf Henkel spricht eine klare Sprache, sowohl was Lesbarkeit als auch Problembezogenheit angeht. Er bleibt stets sachlich, arbeitet mit leicht nachprüfbaren Belegen, scheut sich überhaupt nicht, frei von jeglichem Hang zum Populismus, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Wer seine Biographie kennt, der weiß auch, daß hier ein Mensch nicht nur theoretisiert, sondern durch seine eigene Lebenspraxis fundiert und glaubhaft argumentiert. (Übrigens kennt Henkel das Leben aus einfachster Perspektive, hat sich "hochgearbeitet", und ist eben nicht nur jemand der, so ein Vorwurf, ein "unerträgliches Lied auf den Kapitalismus" singt; vielmehr ist er konsequenter Verfechter einer sozialen Marktwirtschaft, entsprechend auch seine Argumentationslinie in diesem Buch.)
Er nennt die Ursachen der wirtschaftlichen, fiskalischen und politischen Fehlentwicklungen beim Namen, bleibt dabei auch geistigen (und anderen) "Gegnern" gegenüber fair, differenziert auch sehr wohl zwischen Stärken (beispielsweise bei Widersachern)und Schwächen (so auch bei ihm Nahestehenden). Er hängt sein Mäntelchen ganz gewiß nicht in den sprichwörtlichen Wind und bleibt stets sachbezogen. Personenschelte dient ausschließlich konkreten Fehlleistungen (von denen man jedoch über die unterschiedlichsten Personen jede Menge erfahren kann!) und niemals als Ausdruck rein persönlicher Abneigung. Auch hierin hebt sich Henkel von vielen anderen Personen in Politik, Wirtschaft und Mediengestaltung wohltuend ab.
Deutlich weist er auch seine Interessenbezogenheit aus, gewiß aus der Einsicht und dem Selbstverständnis heraus, daß jeder Mensch interessenbezogen (also irgendwie auch: ideologisch) verankert ist; entscheidend ist insofern, daß man diese Interessenbezogenheit kenntlich (also den Adressaten gegenüber: deutlich wahrnehmbar) macht und sie nicht zu verschleiern versucht. Also läuft der häufige Vorwurf "Ideologiekritik eines Ideologen" ins Leere, da jeder, der Ideologie kritisiert auch selbstverständlich eine aufzeigbare ideologische Verortung hat.
Henkel beeindruckt auch in diesem Buch durch seine menschlichen Orientierungen, seine intellektuelle Fähigkeit, eine bemerkenswerte Mischung aus Bescheidenheit und Selbstbewußtsein, das erfolgeiche Bemühen über den eigenen "Tellerrand" hinauszusehen und - was dieses Buch dann für alle Kreise lesbar und wertvoll macht - dem erfolgreichen Versuch, sich so auszudrücken, daß er verstanden werden will (und es auch kann). Also weit entfernt von Formen eitler Selbstdarstellung (wie leider sattsam von anderen Publizierenden bekannt)! Besonders erwähnenswert: auch eigene Fehler spricht er mutig und in keinster Weise beschönigend oder gar sich auf “billige” Weise entschuldigend an ...



3 Die seligen Jahre der Züchtigung. Novelle.   von Fleur Jaeggy  (Berliner Taschenbuch Verlag, 2004)

 Gescheit und nachdenklich stimmend!

 Ein lesenswertes Büchlein über Erfahrung und Verarbeitung von Lebensgefühlen, Disziplin, Wunsch, Unterordnung, Freiheitsdrang, Selbstzucht und, ja, auch gewisser Weltverachtung. Sprachlich brillant geschrieben. Hintergrund sind die Abläufe in einem Mädchenpensionat für sogenannte höhere Töchter, der zeitliche Bezug sind die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Einfach genial, wie die Autorin die Handlungsstränge entwickelt und vor den Augen des Lesers entfaltet.
Hier ein paar wenige der vielen im Buch enthaltenen Denkanstöße:

Abschiede haben ferne Nachkommen, und die Landschaft deckt sie mit Gestrüpp und Laub zu. (S. 82)

Aber ich beharrte darauf, die Traurigkeit ganz auszukosten, wie zum Trotz. Die Lust der Enttäuschung. Sie war mir nicht neu. (S. 86)

Und ich dachte an die Grabnischen, die sich in unserem Kopf einnisten. (S. 93)

Es herrscht eine Art Reglosigkeit. “Bist du zufrieden?”  “Ja, mein Vater.” Auch im Reden liegt etwas Regloses. (S. 96)

Ich war nicht imstande gewesen, ihr ein paar Worte zum Tode ihres Vaters zu sagen, der nie existiert zu haben schien. Aber man stirbt, auch wenn man nicht existiert. Und deshalb hat Frédérique das Internat und mich verlassen. (S.82 f.)

Auch Micheline reiste ab. Sie küßte und umarmte alle, ein großer emphatischer Abschied vom Internat, von der Zeit, die sie hinter sich ließ, von ihrem Lachen, das vielleicht ein anderes Lachen hatte keimen lassen. (S. 93)

Ich hielt ihre Entsagung für eine geistige und ästhetische Übung. Nur ein Ästhet vermag auf alles zu verzichten. (...) Sie sitzt auf einer Couch, auf einem Bett, das genausogut aus Stein sein könnte, ohne Falten. (...) Von ihrem Gesicht schweiften meine Augen ins Leere. Sie war ruhig. Mir kam etwas Banales in den Sinn: Wir waren nicht erzogen worden, um so zu leben. Ich war voller Bewunderung. (S. 107)

Die Auswahl ist eher willkürlich, jedenfalls ohne intendierte Systematik. Sie soll vielmehr zeigen, welches geistige Spielfeld für psychologische, philosophische und soziale Ambitionen sich hier für Leser auftun könnten ...



4  Lob der Disziplin.    Eine Streitschrift.  von Bernhard Bueb  (List, 2006)
Zumindest notwendig zur Versachlichung von Diskussionen über die Arbeit an Schulen.

Bernhard Bueb zeigt auf, wie Erziehung und (Aus-)Bildung in Deutschland wieder auf die Füße gestellt werden könnte. Er setzt notwendige Aspekte und Inhalte wie Autorität, Gehorsam, (Selbst-)Disziplin, Gemeinschaft und Leistungsbereitschaft in den unverzichtbaren, grundlegenden Kontext jeglicher erfolgreicher Erziehungsarbeit, entkleidet sie jener ideologischen Verzerrungen, die den sachlichen Umgang mit eben diesen Begrifflichkeiten wegen ihrer geschichtlichen Belastung (z.B. Hitlerzeit, DDR) für viele Menschen so schwer oder gar unmöglich gemacht hatten.

Der Verlag nennt das Buch unter anderem “Eine Streitschrift”, was eigentlich inhaltlich wegen der großen und überzeugenden Darstellung der Problemfelder unangemessen wäre und Konsens sein sollte, gäbe es nicht in der Öffentlichkeit eine in jahrelanger Praxis verfestigte Eindimensionalität im pädagogischen (Vor-)Verständnis, die genau jenen plausiblen Sichtweisen ausweicht oder sie gar verteufelt. Daß ich mit dieser Auffassung nicht falsch liege, zeigte unlängst eine Fernsehdiskussion, in der Damen und Herren der “alten” und im Denken restriktiven Schule Herrn Bueb heftig angriffen; der Autor begegnete diesen Angriffen sachlich, ruhig und mit einer Überlegenheit (die wohl die Kraft der Argumente auf ihrer Seite weiß), wodurch zusätzlich bestätigt wurde: Hier hat jemand geschrieben, der von jahrelanger Erfahrung, von solidem Fachwissen und von der Liebe (ohne die wirkliche Erziehung nun mal nicht möglich ist) zu den Jugendlichen geleitet ist.

Das Buch hat noch eine andere Seltenheit zu bieten: Es ist so geschrieben, daß es für jedermann (der sich um Verstehen bemühen möchte) verständlich geschrieben ist, es vermeidet überflüssige Wiederholungen, ist in der geistigen Struktur mehr als “spannend” und stringent zu lesen und weist - dem List Verlag und einem hier sicherlich extrem sorgfältigen Lektorat sei Dank - keinerlei der leider ansonsten bei neueren Büchern zunehmend recht üblichen Fehler auf.

Ich kann “Lob der Disziplin” allen empfehlen, die auch nur irgendwie mit Erziehung, mit Jugendlichen und den aktuellen, gesellschaftlich-erziehlich bedingten Herausforderungen zu tun haben und die ihr einschlägiges Denken auf diesem Gebiet fortentwickeln möchten.

Da die ganzheitlich orientierten Thesen Buebs Eltern, Lehrkräften und Bildungspolitikern sehr viel bei ihrer Umsetzung abverlangen würden, sehe ich die Gefahr, daß gemäß üblicher Praxis einzelne Elemente je nach Gusto abstrahiert werden, jene dann ihrer notwendigen ganzheitlichen Grundlage entzogen würden und so wiederum nicht zu der notwendigen positiven Veränderung im Sinne von Kindern und Jugendlichen führen könnten.


5 Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. von Thilo Sarrazin (dva, 2020)
SARRAZINS THESEN SIND WICHTIG! WARUM DER FALSCHE UMGANG MIT IHNEN?

Warum immer diese Aufschreie, wenn jemand einmal die Dinge beim Namen nennt, sie also so schildert, wie sie sich in der tatsächlichen Wirklichkeit gestalten? Wenn also unbequeme Wahrheiten angesprochen werden.
Eine mögliche Antwort: Die Verweigerung der Kenntnisnahme von tatsächlicher Wirklichkeit und als untauglicher Ersatz das Festhalten an einer Pseudowirklichkeit, durch Wunschdenken und Wunschphantasien von sogenannten “Allesverstehern” und Illusionisten in deren jeweiligen nebulösen Geistesfeldern geschaffen... Und da stören Kritiker natürlich die eigenen Kreise.

Zum einen können jene (Aufschrei-)Schreihälse nicht ertragen, daß eben die Wirklichkeit anders ist als sie es gerne hätten; als sie ihre "Wirklichkeit", oft aus gesicherter und abgesicherter Vorstadtidylle heraus, definieren. !
Sie scheuen wohl auch deshalb den Zugang zur Wahrheit, weil die Ergebnisse ihnen dann anstrengende Handlungsstrategien abfordern würden oder gar aber zu Konsequenzen führen müßten, die das gegenwärtig herrschende Paradigma von “political correctness” (zumindest gegenwärtig weitgehend  aus Verlogenheit im Denken und Wahrnehmen genährt) die notwendige, ehrliche Auseinandersetzung mit Problemlagen nicht zuläßt und bei Zuwiderhandlung gegen diese intersubjektive Übereinstimmung (der sich weitgehend für sakrosankt haltenden Besserwisser oder ideologisch orientierten “Sachwalter”) mit üblen, undemokratischen Verfolgungsstrategien (Mundtotmachen, Entlassung, Isolierung, Wortverdrehungen, Unterstellungen, etc.) zu sanktionieren versucht – dies leider in den allermeisten Fällen mit Erfolg.

Was die Wahrnehmung und Deutung jener Vereinfachungs- und Verdrängungstypen angeht, hat Karl Jaspers einmal sehr zutreffend ausgeführt: “Das Bemühen um Verständnis und Interpretation von Texten kann in eine Bodenlosigkeit geraten, wenn es, statt klar auf die Meinung des Sprechenden oder Schreibenden zu gehen, sich vielmehr auf die Sprache, die Worte, die Möglichkeiten der Sache in den Worten wendet. Die Grenzenlosigkeit möglichen Bedeutens scheint der Auslegung beliebigen Raum zu geben. Es ist möglich, aus irgendwelchen Texten, welche als autoritativ anerkannt werden, fast jedes beliebige Problem herauszuholen. (...) Aus Anlaß gegebener Texte werden nicht diese verstanden, sondern in der Scheinform des Verstehens eigene Gedanken entwickelt.” (Von der Wahrheit, Kapitel Die Sprache)

Insofern lassen die Kritiken über Sarrazin sicherlich mehr Rückschlüsse auf die Geisteshaltung und Qualität der Kritisierenden zu als über Sarrazins Thesen selbst. Freilich schadet das der Sache, weil so die Probleme letztlich unbenannt bleiben – dies im Sinne einer Suche nach den Bedingungen der Möglichkeiten zur Verbesserung sozialer Schieflagen. Dem wird von einer doch recht breiten Öffentlichkeit, vor allem aber von der Politik, entgegengehalten, daß die Probleme längst benannt wurden und bekannt seien, daß also Sarrazins Buch allein schon deshalb überflüssig wäre und letztlich nur als üble Meinungsmache diene. Das ist natürlich blanker Unsinn, denn es kommt beim Ansprechen von Problemen vor allem auf die Qualität und Substanz dieses Ansprechens an sowie auf die Folgewirkung bezüglich dieser Analysen.
Und daß dies in der Vergangenheit und bis heute nicht gut funktioniert hat, zeigen offensichtlich die Ergebnisse mangelhafter Integration, die Kriminalstatistiken und die konkreten Alltagserfahrungen in Schulen und sozialen Brennpunkten. Oder vereinfacht: Wenn bisheriges Ansprechen von Problemen nicht zu erfolgreichen Lösungsstrategien geführt hat, dann ist es durchaus legitim sowie dringend notwendig, diese Problemlagen immer wieder zu verdeutlichen. Und das hat Sarrazin mit seinem Buch zumindest getan. (Seine Problemschilderungen in den Zusammenhang mit anderen von ihm geäußerten Gedanken, wie zum Beispiel das dümmliche Gen-Beispiel, die mit seinem Buch nichts, aber auch gar nichts zu tun haben, zeigt nur den Willen vieler sogenannter Kritiker zu unsachlichem Umgang mit seinen im Buch vorgetragenen Inhalten. Zudem hat Sarrazin sich von dem Gen-Argument längst glaubhaft distanziert und klargelegt, wie es zu dieser verkürzten Darstellung in der Presse gekommen ist.)
Nochmals für die demagogisch Verblendeten: Es war allein schon wegen Unterlassungen oder nur halbseidenen Handlungen, großenteils von falsch verstandener Gut-Mensch-Attitüde befördert, dringend notwendig, an diese sozialen Schieflagen zu erinnern und das hat mit seinem Buch Sarrazin dankenswerterweise getan.
Zum anderen sollten jene den tatsächlichen Problemen gegenüber Blinden (sei diese Blindheit aus Unfähigkeit, aus Distanz, aus Phantasmagorie oder aus wie auch immer denkbaren anderen Motiven gewachsen) einmal sich zusätzlich auch anderer Literatur zuwenden, die derartige soziale Problemlagen aus spezifischer Perspektive deutlich aufzeigen. So als ein Beispiel Kirsten Heisigs “Das Ende der Geduld”, in dem die erfahrenen Jugendrichterin (mittlerweile leider aus ungeklärten Motiven aus dem Leben geschieden) als Insiderin und faktenreich schildert, wie die Probleme tatsächlich sie darstellen. Hier werden Sarrazins Warnungen deutlich unterstrichen.

Es ist natürlich stets ein Aspekt der Betroffenheit; so wird der Politiker oder Journalist, der das wirkliche Leben nur aus seiner Vorstadtidylle kennt (und beschreibt), soziale Gegebenheiten anders erfahren als jene Menschen, die mitten im brisanten Geschehen ihr Dasein zu fristen haben. Aber das Angebot an kritisch-aufklärender Information, vor allem auch von Autoren mit Migrationshintergrund, ist mittlerweile sehr umfangreich. Fast all diesen gründlich arbeitenden und um Erhellung der Problemlagen bemühter Autorinnen und Autoren kann man unterstellen, daß sie sehr wohl ihr Schreiben in den Dienst der Verbesserung der Situationen stellen!

Einen Fehler, dem zur Zeit vor allem jene Kritiker anheim fallen, den sie sogar vielfach zu ihrem “Hauptargument” machen, sollte man in dieser Auseinandersetzung nicht machen: die  Beispiele gelungener Integration dazu benützen um die Auseinandersetzung um die nicht gelungene zu verwässern. In diesem Kontext wäre es nämlich nur sinnvoll zu fragen, wie kann man aus den Ergebnissen gelungener Integration Schlußfolgerungen für die Beseitigung von Integrationshindernissen ziehen und diese praktisch umsetzen. Aber noch so viele Beispiele von erfolgreicher Integration können und sollten nicht über die Brennpunktproblematik hinwegtäuschen. Übrigens spricht Sarrazin bei nicht gelungener Integration auch von Deutschen, deren Integration in das soziale Miteinander bislang gescheitert ist, was den Vorwurf von angeblicher Fremdenfeindlichkeit Sarrazins zusätzlich sehr relativieren dürfte und sollte! Aber da müßten sich die marktschreierischen (Berufs-) Empörer erst einmal um sachliche Distanz bemühen, eine Aufgabe die wohl die allermeisten von ihnen heillos zu überfordern scheint. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat die Kritiker an dem nun mittlerweile ehemaligen (...man sieht, die Saat der Hetze und Anpassung trägt schon Früchte!) Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin (SPD) scharf angegriffen. Man könnte meinen, "die deutsche Meinungs-Besitzer-Szene habe sich in einen Käfig voller Feiglinge verwandelt, die gegen jede Abweichung von den Käfigstandards keifen und hetzen“, sagte Sloterdijk dem Magazin Cicero. Weil Sarrazin in einem Interview die „unleugbar vorhandene Integrationsscheu gewisser türkischer und arabischer Milieus in Berlin“ angesprochen habe, sei „die ganze Szene der deutschen Berufsempörer“ auf die Barrikaden gegangen. Dem ist wohl wenig hinzuzufügen.

6 30 Minuten für Kreativitätstechniken.  von Claudia Bayerl ( Gabal, 2005    )e
(Fast) Schade ums Geld - liest sich wie eine Realsatire!

Wer sich wirklich um Kreativität bemühen möchte, wer wirklich sich Impulse verschaffen möchte, der "lernt" aus diesem Büchlein eher etwas über die schmale Grenze von anspruchsvollen Techniken und gelebter Lächerlichkeit. Ich denke, wem die Tips aus Claudia Bayerls "30 Minuten für Kreativitätstechniken" helfen können, der / die muß schon von sehr einfachem Gemüt sein und von sehr basaler Grundlage aus "starten". Aber ganz umsonst ist die Geldausgabe deshalb nicht, erfährt man doch wieder einmal mehr, was sich alles auf dem Markt sogenannter Ratgeber-Veröffentlichungen tummelt, auch läßt sich recht gut ausmalen, wie man wertvolle Lebenszeit bei derartigen, in diesem Büchlein vorgeschlagenen "Veranstaltungen" verplempern kann; daß das Ganze dann sehr häufig, stellt man sich die Akteure in ihrem "Team-Tun", in ihrer "Kreativitäts-Akrobatik" realiter vor, in kabaretthafte Dimensionen mündet, dürfte leicht nachvollziehbar sein.


7 Der Zweiklassenstaat: Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren. von Karl Lauterbach (rowohlt, 2007)
Auf den Punkt gebracht; verständlich, kritisch und direkt ...

In einer klar verständlichen Sprache und mit erfreulich wenig Redundanz zeigt Karl Lauterbach die tiefergehenden Problemzusammenhänge von schlechter Bildung, qualitativ unterschiedlicher Medizinversorgung, Chancen im Arbeitsleben bis hin zu einem ungerechten Rentensystem, an dessen Ende für nicht wenige eine desolate Pflegesituation steht, auf. Er weist auf die unverzichtbare Solidarität als Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaftsordnung ohne Neid und moralischen Verfall und andere Degenerationserscheinungen hin. Lauterbach greift in seiner Abhandlung erfreulicherweise höchst selten auf das Stilmittel der Polemik zurück - für derartige Bücher eine ansonsten häufig zu konstatierende Unart. Die dargelegten Fakten sind häufig durch Anmerkungen belegt, in den meisten Fällen auch mehr oder weniger leicht nachprüfbar. Er macht sich zum Anwalt der Beseitigung von Ungleichheit im Sinne einer Vorenthaltung von Chancen und plädiert für eine Verteilung gesellschaftlicher Lasten auf die Gesamtheit der Bevölkerung. Dabei verlangt er unmißverständlich den Abbau von Privilegien, dies in einer Sprache und Adressierung, die keine Zweifel aufkommen läßt. Er scheut sich dabei nicht, etablierte und saturierte Kreise direkt anzusprechen und zu kritisieren. Daß die von ihm kritisierten Personenkreise zu denen gehören, mit denen er auf Grund seiner Bildung und seiner beruflichen Orientierung, oft vielleicht auch nur: zwangsweise, verkehren muß, machen ihn und seine Äußerungen umso sympathischer. Freunde dürfte er sich mit seiner unverhohlenen Kritik in jenen Kreisen nicht gerade machen. Da Lauterbach auch Politiker ist, sollte seine klare und direkte Darstellung hervorgehoben werden: Er weicht nicht aus, bleibt niemals nebulös und schielt gewiß nicht nach Popularität (und wenn, dann allenfalls bei den von ihm so bedauerten Unterprivilegierten, deren überwiegende Mehrheit - so steht zu befürchten - sein Buch wohl kaum lesen wird).
Lauterbach selbst gehört nicht zum Kreise jener zweiten Klasse, die nach seinen Ausführungen in unserer Gesellschaft mehrfach benachteiligt ist. Aber er stammt laut seinem eigenen Bekennen aus dem Arbeitermilieu, war Nutznießer der Brandtschen Bildungsreform (so seine Worte in einem Fernsehinterview; er bezeichnete diese Reform als Glücksfall für ihn und seine diesbezüglich begünstigte Alterskohorte, bedauerte jedoch gleichzeitig, daß von den damaligen Reformansätzen nicht mehr viel für die heutige Generation übrig geblieben ist) und hat sich entsprechend hocharbeiten, also auch aufsteigen können.
Wer ihm nun aus seiner jetzigen erfolgreichen und sicherlich privilegierten Stellung vorwerfen möchte, er wäre der falsche Rufer in der Gesellschaftswüste, übersieht freilich, daß zur legitimierten Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung keine Grenzen bezüglich Status gezogen werden sollten; allein ausschlaggebend sind vorhandene Kompetenz, die Kraft seiner Argumente und natürlich die Fähigkeit sowie die Bereitschaft, sich nicht in erreichten Pfründen einzunisten und Einseitigkeit der Denk- und Sichtweisen zu vermeiden. Eben: eine umfassende, kritische, aufrichtige Darstellung eines untragbaren, vor allem auch unter dem Aspekt der Zukunft zu sehenden: unhaltbaren, gesellschaftlichen Ist-Zustandes. Ein lauteres Buch ...

8 Supermuttis. Eine Abrechnung mit den überengagierten Müttern. von Lotte Kühn (Pseudonym von Gerlinde Unverzagt) (Droemer, 2008)
Überflüssiges Buch

Unverzagt wendet sich Frau Kühn nach dem Rundumschlag gegen Schule und Lehrer ("Das Lehrerhasser-Buch. Eine Mutter rechnet ab." Droemer 2005) nun gegen die von ihr (oder dem Verlag) so genannten "Supermuttis". Leider begegnet man in diesem Buch einem Sammelsurium von Klagen- und Jammerkollekten, eindimensionalen Beobachtungen (mit jeweils ebensolcher subjektiv determinierter Interpretation seitens Verfasserin) wie man es vom Lehrerhassbuch her schon kennt. Unklar bleibt vor allem auch das Bild dieser angeblichen "Supermuttis", wohl auch nicht verwunderbar, denn wie sollte man mit an Stammtischparolen orientierter Begrifflichkeit klare Abgrenzungen leisten können. So bleibt nicht einmal ein halbwegs nachvollziehbares Zerrbild jener Kollektivanschuldigung "Supermuttis", dafür jedoch der Verdacht, dass man aus Effekthascherei ökonomischen Nutzen zu ziehen versucht.

Ein wirklich überflüssiges Buch, das in die lange Reihe vieler gegenwärtiger (vorgeblich auch am Sozialen orientierter) Veröffentlichungen paßt, die ihren Druck lediglich Schlagwörtern á la BILD-Zeitung und/oder der Prominenz der sogenannten Autoren verdanken und mit ihren Titeln ein Hilfsangebot für Suchende suggerieren.
Frau Kühn aka Frau Unverzagt hätte besser daran getan, die wirklichen Schwierigkeiten für alle Beteiligten hinsichtlich Erziehung im Alltag aufzuzeigen. Damit hätte sie vielleicht einen sinnvollen Beitrag zur gesellschaftlich notwendigen Diskussion um Vor- und Nachteile von häuslicher sowie außerhäuslicher Erziehung, zur Problematik beispielsweise um Elterngeld (Erziehungsgeld) auch bei ausschließlich häuslicher Erziehung (wie von CDU und CSU m.E. fälschlicherweise gewollt) und zu einer staatlicher Angebotsbildung (um Freizeitgestaltung und Mahlzeiten in einem pädagoisch sinnvollen Rahmen bereichert) für alle zur Entlastung von Müttern und Vätern, zur Verantwortung und Verpflichtung im Erziehungsgeschehen, zu Möglichkeiten kompensatorischer Erziehung u.a.m., leisten können.

So aber, wie das Buch geschrieben ist, wird der Verdacht genährt, dass eigene, im Leben aufgesammelte Frustrationen und ökonomischer Spürsinn bei der Erstellung zumindest stark mit handlungsleitend waren. Den allermeisten Leserinnen und Lesern dürfte dieses Buch jedenfalls nichts Neues bieten, schon gar nicht bei der Suche nach Problemlösungen weiterhelfen.



9 Kritik der reinen Toleranz. von Hendryk M. Broder (wjs, 2008)
Sehr gut lesbar, weitgehend notwendig, stellenweise aber auch hinterfragwüridig.

Wilhelm Busch hatte es einmal recht einfach (und damit verständlich) ausgedrückt: "Toleranz ist gut. Aber nicht gegenüber Intoleranten." Und von diesem Prinzip läßt sich Henryk M. Broder leiten. So sind seine Ausführungen jedenfalls (durchaus gewollt als Gegenpart zur weit verbreiteten Beschwichtigungsideologie!) polarisierend. Mit einer Reihe von Beispielen verweist er auf Fragwürdiges und vor allem auf Hinterfragwürdiges im Umgang mit Unduldsamkeiten vielfältiger Art. Dabei gerät er allerdings manchmal argumentativ auf die Ebene, die er zu kritisieren vorgibt, vor allem dann, wenn seine Darstellungen teilweise Tiefe und zum gründlicheren Verständnis notwendige Kontexte ausklammern und notwendige Zusammenhänge zu kurz kommen. (Dies Lücken sollten sich Leser unbedingt durch anderweitige Recherchen, besonders auch durch Quellenstudium schließen lassen!)

Auch wenn es der Ernsthaftigkeit (und der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit fragwürdigen Einseitigkeiten innerhalb gesellschaftlicher Problemfelder!) der Thematik vielleicht nicht immer entsprechen mag: das Buch ist vom Einsatz der Stilmittel her interessant, es ist sprachlich stellenweise voll treffender Ironie und Süffisanz, ja sogar unterhaltsam geschrieben. Wer also ausschließlich reine sachliche Analyse in ebensolcher Sprachdiktion erwartet, der wird von diesem Buch vielleicht enttäuscht sein.
Die Gefahr beim Einsatz von erheiternden Vergleichen (erheiternd vor allem wegen der sprachlichen Gekonntheit und der subjektiv ausgewählten Vergleichsgegenstände) ist natürlich, daß man die Ernsthaftigkeit der Problematik beim Lesen etwas in den Hintergrund rückt und sich überwiegend an den Sprachspielereien erfreut. (Wer Broder aus Talkshows etc. kennt, der weiß ja um seine "Diskussionstechnik", die jedenfalls nicht langweilig und öde wirkt, aber eben auch nicht frei von Polemik ist.)
Man lese nur einmal den Passus über die m.E. wundersame Wandlung des Herrn Todenhöfers, deren sachliche Begründung im Buch in den Wettbewerb mit durchaus erheiternden Elementen bei der Ausführung (eben: sprachliche Darstellung, Öffentlichkeitsverhalten, "Qualität" des ihm gezollten Beifalls u.a.) gerät und so vielleicht einem gewissen, schädlichen Relativismus anheim fallen könnte. Aber wie fast immer, es ist es hier Aufgabe der Leser, für sich die Akzentuierung vorzunehmen, ggf. die angerissene Thematik durch anderweitige Quellen zu erschließen und zu vertiefen.

Man muß jedoch sehen, welche Zielsetzung der Autor selbst gesetzt hat: Er wollte eine Streitschrift liefern, (Zitat auf Klappentext: "Ich halte Toleranz für keine Tugend, sondern für eine Schwäche - und Intoleranz für ein Gebot der Stunde.") die inhaltlich sicherlich am o.g. Busch-Zitat festgemacht werden kann. Und wer sich durch eine rein euphemistische Deutung des Begriffs "Toleranz" nicht in oberflächliches Denken verirren möchte, der differenziert ohnehin und orientiert sich inhaltlich in etwa (oder genau!) an kritischeren Betrachtungsweisen: "Toleranz ist auch so viel wert wie das Motiv des Tolerierens. Es gibt eine Menge Motive: zum Beispiel Gedankenlosigkeit, Faulheit, Feigheit." (Ludwig Marcuse) Oder, und das dürfte Broder auch gerne hören, an einer anderen Überlegung desselben Philosophen, der sinngemäß feststellte, daß Toleranz dort fehl am Platze wäre, wo Schweigen unmoralisch würde.

Fazit: Als Streitschrift ist dieses Buch durchaus gelungen, unterhaltsam zu lesen ist es allemal (vor allem wegen der m.E. fast immer gut gewählten sprachlichen Spitzfindigkeiten), aber es wird wohl kaum Personen mit starrer (wie auch immer fundierter!) Überzeugung (sowohl der einen wie der anderen Position; Stichworte: unsere Gesellschaft läßt sich bereits viel zu viel gefallen und gibt wertvolle ethische und moralische Positionen preis, political correctness versus Tabuisierung unliebsamer Sachverhalte; Öffnung gegenüber Andersdenkenden, etc.) zum Überdenken ihrer jeweiligen Positionen bringen. Ich fürchte, die einen werden das Buch als Bestätigung ihrer Auffassung, wonach alles bereits in Richtung Aufgabe von historisch und gesellschaftlich gewachsenen Werten, tendiert, werten, während andere die Inhalte als reine Hetzschrift brandmarken dürften, ohne auch nur die geringste Bereitschaft zu entwickeln, ihre eigenen Positionen überdenken sowie hinterfragen zu wollen.
Noch ein Wort an das Lektorat: Auch in dieser Veröffentlichung ist es leider so, daß wohl Sorgsamkeit Opfer von Termindruck geworden ist; als Beispiele seien nur genannt 1. "5000 Zivilsten ermordet" (S. 71) und "Horrotrip" (S.77). Leider sind derartige Flüchtigkeiten in Publikationen heutzutage eher die Regel als die Ausnahme, mindern freilich nicht den Wert des Inhalts eines Buches an sich.

10  Die Zeit. Die Zeit.  von Martin Suter  (Diogenes Verlag, 2012)

Schade um die durch das Lesen vergeudetet Zeit ...

Der Roman arbeitet den Zeitbegriff insofern subjektiv auf beinahe jeder Seite spürbar auf, als man beim Lesen damit seine eigene Zeit größtenteils vergeudet. Es dürfte Suters schlechtester Roman bislang sein.
Wer jedoch Freude an endlos langweiligen Schilderungen über Umgestaltung von Häusern, Inneneinrichtungen, Gartenanlagen, dies dann auch noch in größtmöglicher Umständlichkeit (andere mögen es: Detailtreue nennen ...) ausgestaltet, findet, dem mag der Roman dienlich sein.

Ich habe ihn nur deshalb zu Ende gelesen, weil da doch noch so ein Stück Resthoffnung auf Besserung war, letztlich durch das “Spannungsmoment” getragen, was das Ganze soll und wo führt es denn noch hin.

Wie die zwei Witwer sich in dem ziemlich bald durchsichtigen Plot so durch die Seiten winden – das muß einem erst einmal einfallen. Jedenfalls denke ich, daß man so etwas nur dann veröffentlich bekommt, wenn man schon (bislang auch zu Recht) einen “guten” Namen im Literaturgeschehen hat ...

Und es führt hin – zu einem schon sehr merkwürdig konstruierten Schluß, den ich aber im Interesse all jener, die das Buch doch noch lesen werden, hier nicht verraten, nicht einmal  andeuten möchte. Aber für mich hat er das Buch auch nicht in einem versöhnlichen Lichte erscheinen lassen ...

Sollte irgendein Leser vor der Lektüre auch der abstrusen Idee angehängt haben, daß "Zeit nicht existiert", sondern sie nur jeweils über "die Veränderung" in Erscheinung tritt (auch schon ein Widerspruch an sich eigentlich), dann dürfte er spätestens während der Lektüre sich selbst eines Besseren belehrt haben (müssen).



11  Gott hat hohe Nebenkosten von Eva Müller  (Kiepenheuer & Witsch, 2013)

Eine hervorragend geschilderte Auseinandersetzung in Bezug zum Verhältnis zu Vorgaben der katholischen Kirche.

Anhand der Erfahrungen einer Leiterin eines katholischen Kindergartens zeigt Eva Müller auf, welche Probleme sich ergeben können, wenn der Staat sich aus wesentlichen Feldern teilweise oder gänzlich zurückzieht.

Eine allseits beliebte und auch durch ihre qualitativ hochwertige Arbeit sehr geschätzte Leiterin erhält nach langen Jahren erfolgreicher und engagierter Beschäftigung die Kündigung, nachdem sie sich hat scheiden lassen und zu ihrem neuen Lebenspartner gezogen ist.

Die Kirche beruft sich auf ihre Prinzipien, betont besonders eine elementare und sinnstiftende Bedeutung der Sakramente (in diesem Fall: des Sakraments der Ehe); sie verweist auf ihre sehr weitgehende Autonomie im kirchlichen Arbeitsrecht indem sie zusätzlich an ihren “Dritten Weg” der Regelung von Arbeitsbedingungen (gegenüber dem “Ersten Weg” einer weitgehend einseitigen Festlegung der Bedingungen durch den Arbeitgeber wie beispielsweise im Öffentlichen Dienst und einem “Zweiten Weg” des Aushandelns der Arbeitsrechte durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern) erinnert, mahnt “Vertragstreue” für eine Weiterbeschäftigung an und der örtliche Pfarrer spricht gar davon, daß die Gefahr “eines schädlichen Ärgernisses” gegeben sei und deshalb die Entlassung zu vollziehen wäre. Christ sei man nicht nur für sich selbst, sondern für alle anderen ebenso und der Herrgott sei für uns ein Gott der Treue und daher verstünden wir die Ehe als ein Abbild des Bundes Gottes mit den Menschen.
Was der Pfarrer, zuständig auch für den Nachbarort Rauschenbach / Königswinter, hier im selbstverliebten Pluralis ausspricht, kann und darf natürlich allenfalls für seine eigenen Glaubensangehörigen gelten, nicht jedoch für das Gesamt der Bevölkerung!

Eva Müller schildert in gut verständlicher Sprache und immer wieder mit nachvollziehbaren Beispielen belegt, wie letztlich in sehr vielen Fällen der Staat zahlt (den Kindergarten mit dem “schädlichen Ärgernis” gar zu 100 % und darauf noch 2% Verwaltungsgebührerstattung draufgesattelt!), die Kirche aber anschafft und bestimmt. Daß dies besonders in Gegenden, wo staatlicherseits keine säkulare Lösung angeboten werden, einer pluralistisch verstandenen Gesellschaft gegenüber kontraproduktiv wirken muß, ist mehr als deutlich.
Wem jedoch im vorliegenden Buch die Beispiele, was Finanzierung angeht, nicht genügend erscheinen, der sei zusätzlich auf das Buch von Carsten Frerk “Violettbuch Kirchenfinanzen – Wie der Staat die Kirchen finanziert” verwiesen; darin findet sich ausführliches, nachprüfbares Zahlenmaterial.

In Eva Müllers Veröffentlichung werden auch Fallbeispiele genannt, wo “Andersgläubige” (z.B. Protestanten) zwar für eine Aushilfsstelle lange Zeit beschäftigt wurden, ihnen jedoch dann – eben aus jenen Glaubensfestlegungen heraus – die gewünschte Festanstellung verwehrt wurde. Aushilfsweise für lange Zeit scheinen die ansonsten vorgebrachten Ablehnungsgründe plöztlich irrelevant zu sein! Verstehe das, wer wolle.
Völlig inakzeptabel sind auch homosexuelle / lesbische Orientierung – offensichtlich nicht zu dulden im Kontext christlicher Auslegung von Nächstenliebe und Beschäftigungsstruktur ...

Wäre es angesichts dieser Häufung von Trauerspielen mit freilich sehr konkreten Folgen für die Lebensgestaltung der Betroffenen nicht zynisch, könnte ich feststellen: Das Buch liest sich auch sehr spannend. Spannend nämlich insofern, als die Leser einen Prozeß begleiten können, dieser anschaulich in der Entwicklung (mit der Erwartung auf das, was als nächstes einem an Merkwürdigkeiten begegnet) und in seinem (Hoffnung machenden?) Ende hautnah erfahrbar wird.
Was jedoch einer besonderen Erwähnung bedarf: Die Solidarität, die Bernadette Knecht in ihrem Ort – über alle Glaubensgrenzen hinweg! – erfahren hat (und die im Buch wieder sehr “lebendig” wird!), die ist bewundernswert, sollte Schule machen und gibt Anlaß, sich zu überlegen, wo man selbst sich einschlägig engagieren kann und sollte und natürlich auch, wo man es besser bleiben läßt.

Wie man auch immer die Angelegenheit nach der Lektüre betrachten mag – klar dürfte sein, daß das Verhältnis von einem pluralen, weltlichen Rechtsstaat zur Kirche noch entscheidender Klärung und Korrekturen bedarf! Die Parteien, die in ihren Grundsatzprogrammen zu früherer  Zeit darin sehr wohl einen Regelungsbedarf gesehen hatten, haben sich mittlerweile zumindest explizit von ihren alten grundsätzlichen Forderungen distanziert, sie verwässert, ohne daß hierfür sachimmanente Gründe zu sehen wären.



12  Der Weizsäcker Komplex (Eine politische Archäologie) von  Thorsten Hinz ( Berlin 2012 ,Edition JF)

 Sehr gut recherchiert, klar und verständlich formuliert, äußerst sachlich ...

Thorsten Hinz erhellt die tragische Figur des Ernst von Weizsäcker, vor allem sein Wirken im Dritten Reich. Er zeigt die Vielschichtigkeit dieser Persönlichkeit auf, den Drahtseilakt zwischen theoretischer und praktizierter Verantwortungsethik sowie den tatsächlichen Auswirkungen von Unterlassungen, Duldung und (aktivem) Handeln. Auch werden die Kriegsschuldfrage im Kontext der damals international verfolgten Politik sowie die Problematik von Aktion und Gegenaktion, von Treiben und Getriebenwerden, klar herausgearbeitet.
Daß in der Folge einer seiner Söhne, Richard von Weizsäcker, in seinem Handeln durch die Geschehnisse um und durch seinen Vater, dem Staatssekretär im Auswärtigen Amtes des NS-Regimes, maßgeblich beeinflußt scheint, wird im Buch ebenfalls sehr deutlich; Verdrängung und eine einseitige, selektiv wirkende Distanz zu geschichtlichen Sachverhalten scheinen offensichtlich so manche spätere Äußerung des ehemaligen Bundespräsidenten in ihrer qualitativen Relativität verständlich zu machen.
Auch die anderen Mitglieder der Familie Weizsäcker werden dem Titel des Buches entsprechend  in ihrer jeweiligen politischen Relevanz dem Leser vor Augen geführt.

Das Buch zeichnet sich durch eine sehr differenzierte Betrachtungsweise aus, einseitige und damit unvollständige, verkürzende Darstellung wird vom Autor erfolgreich vermieden. Alle wesentlichen Aussagen sind eindeutig belegt, somit bei entsprechendem Interesse der Leser leicht der zielführenden Nachprüfung zugängig. Thorsten Hinz hält auch die Kriterien einer eigenen ideologischen Verortung konsequent ein: sehr klar sind Fakten und die jeweilige Interpretation des Autors zu unterscheiden.

Wer sich ernsthaft für die neuere deutsche Geschichte interessiert, wer sich nicht mit der häufig anzutreffenden demagogischen Einseitigkeit oder echte Aufklärung verhindernden politischen Korrektheit zufrieden geben möchte, der findet hier ein exzellentes Buch auf der Suche nach wahren Hintergründen der Geschehnisse. Kein Buch für Demagogen, sondern ein Sachbuch wie man es sich wünscht!



13   Wahrheit oder Lüge (Tanja Steinlechner, Berlin 2009, ANAIS / Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag)

 Ein erotischer Roman, der mir gelungen erscheint und sich sehr schön und nachvollziehbar lesen läßt.

In der Widmung heißt es unter anderem “für alle Liebenden”. Und davon handelt dieser Roman: von der Liebe, vom Lieben das nicht von irgendwelchen Außenstehenden mit ihren dürren und trockenen Moralvorstellungen in Schranken gewiesen werden darf. Liebesspiele, die so manchen Neider oder Bedenkenträger auf den Plan rufen dürften, um sogleich ihre Moralkeule mahnend und drohend zu schwingen.

Also von ungehemmter Liebe, vor allem auch von körperlicher Liebe in all ihren schönen Facetten. Von der Lust. Von der Lust zwischen den Geschlechtern, auch von der Lust der Geschlechter untereinander.

Selten dürfte (leider) schon der Rahmen sein. Obwohl ihr Studium schon sehr, sehr lange zurück liegt, treffen sich fünf Freundinnen immer wieder in größeren Abständen, um miteinander den Tag zu genießen, sich zu feiern, ihre Gemeinsamkeiten (und auch Trennendes) auszutauschen, um eine (sicherlich auch leider sehr seltene) Offenheit zu leben.

Diesmal treffen sie sich zu einem Picknick auf einem Hang der Hauptstadt, breiten sich im Gras aus. Sie haben unter anderem vereinbart, jede einzelne soll zwei Geschichten aus ihrem Liebesleben erzählen, eine davon muß wahr sein, die andere Fiktion.

Gekonnt entfaltet die Autorin durch die Schilderung verschiedenster Interaktionen die Wesensarten der Freundinnen, man sie sich durch die Geschehnisse und durch den jeweiligen Austausch im Laufe der Erzählung immer besser vorstellen. Das wirkt nicht plump oder gar manieriert, sondern ist schlicht und einfach ein behutsames Entfalten von Teilen der Persönlichkeiten.

Durch die ganze Geschichte zieht sich ein Prickeln, oberflächliche (damit eben auch realistische) Verhaltens- und Denkweisen mischen sich mit Tiefgang (eben auch, zumindest bei einigen Menschen, realitätsbezogen) und Sehnsüchten (wer hat die denn nicht?!), vor allem aber geht es immer wieder sehr viel um Sex.
Es wird viel gefickt, gevögelt, miteinander geschlafen (ich wähle ganz bewußt diese unterschiedlichen Verben wegen der ihnen jeweils zuordbaren Konnotation!), da erfährt man über sexuelle Heimlichkeit, über Fremdgehen, über Befriedigung und deren Gegenteil, einfach über die ganze Bandbreite sexueller und liebesorientierter Leidenschaften (oder im weniger angenehmen Fall: deren Abwesenheit ...).

Tanja Steinlechner geht geschickt mit der jeweils passenden Sprachebene um, nichts klingt gekünstelt oder unpassend; Leser (und natürlich ebenso wichtig: Leserinnen) können so einiges bestimmt “nacherleben”, sich anregen lassen, Ideen entfalten, die Schönheit und Lust vom sexuellen Leben als eine unverzichtbare Alltagsaufgabe begreifen und das dann in der einen oder anderen Form in eine gesundheitserhaltende und eigene Praxis umsetzen und ausleben. Eben ein Stück Ganzheitlichkeit (er-) leben!

Sehr gelungen und ansprechend finde ich auch das Cover des Taschenbuches (die blonde, angezogene Frau mit zufriedenem Gesichtsausdruck in einer Blumenwiese liegend).

Wer (harten) Porno sucht, dürfte mit diesem Roman in der Regel nicht ganz auf die Kosten kommen, wer jedoch ästhetisch, lustvollen Sex im Auge hat, wird hier fündig werden.

Im ANAIS Verlag gibt es weitere ähnlich empfehlenswerte Bücher, so beispielsweise Anna und ihre Männer (Alaine Hood), Spieler wie wir (Cornelia Jönsson) sowie Lara, Jill & Lea (Jaci Burton; Shannon Stacey; Ann Wesley Hardin)



14  Liebesgedichte und erotische Gedichte ( Flexible Literature Verlag, edition audioamore, Sulzbach/Ts 2007, Books on Demand)

 Dünnes Bändchen mit durchaus gelungener Auswahl von Werken ab dem 17. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert

 Wer einen größeren und ausführlichen Überblick über (deutsche) Gedichte sucht, der greift natürlich beisoielsweise zu "Klassikern" wie "echtermeyer / von wiese deutsche gedichte" (August Bagel Verlag Düsseldorf 1956), "Lyrik der Abendlands" (Hennecke / Hohoff /Vossler / Britting; Hanser Verlag 1963), "Der Tausendjährige Rosenstrauch -- Deutsche Gedichte! (Paul Zsolnay Verlag, 1973 oder zu "Die Lyra des Orpheus -- Lyrik der Völker in deutscher Nachdichtung" (Heyne Ex Libris, 1978), um nur ganz wenige der auf dem Buchmarkt erhältlichen umfangreichen Angebote zu nennen. Der Anthologien sind wahrlich unzählige ...
Es lohnt sich auch immer wieder, einen Gedichtband in die Hand zu nehmen, der einem einzigen Autor gewidmet ist oder von ihm selbst veröffentlicht wurde (natürlich die nicht zu vernachlässigende dichterische Damenwelt eingeschlossen!).
Ebenso leicht wird fündig, wer sich Gedichte "nur" zu einem bestimmten Thema suchen möchte; eines der herausragendsten Gebiete dürfte hier wohl die "Liebe" sein. Die Literaturkenner und -sucher haben sich -- und damit nenne ich nur ein einziges aus unzähligen Werken! -- gewiß dann auch durch Erich Frieds "Als ich mich nach dir verzehrte -- Gedichte von der Liebe" Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, o.J.) erfreuen lassen und tun es immer noch, so wie sie sich gleichermaßen nachdenklich stimmen lassen durch Erich Frieds Was bist du mir? / Was bin ich dir? / Was bin ich? / ...

Lyrik also auch als Schlüssel und Spiegel zum Welterleben, als Ausdruck eigentlich unbeschreibbarer Gefühle, als in Sprache gefaßte Bildhaftigkeit von Dingen, die eigentlich anders nicht oder kaum oder nur unzureichend zu beschreiben wären.

Wer es nun unternimmt, wie im vorliegenden gediegen gestaltetem Bändchen geschehen, "Deutsche Lyrik, Balladen und Poesie mit einer Prise Erotik aus vier Jahrhunderten" auszuwählen und sie dann auf sage und schreibe "wenigen" 75 Seiten darzubieten, der hat es, gelinde gesagt, nicht leicht. Eine solche Auswahl kann niemals für die jeweiligen Epochen repräsentativ sein, ist also vielmehr "Zeugnis" derjenigen, die gesucht, aussortiert und letztlich dann ausgewählt haben.
Leider ist in diesem Gedichtbändchen nicht ersichtlich, wer sich all dieser Mühe unterzogen hat, wer seine persönlichen Vorzüge hat walten lassen.
Ob das ein Manko ist, ob dies redaktionell vertretbar ist, mag ein jeder für sich selbst entscheiden.

Ich persönlich halte es trotz dieser notwendigen Kritik für wesentlicher, daß es sehr wohl gelungen ist, eine jeweils halbwegs "typische" Auswahl dergestalt zu treffen, daß man, so man dies denn möchte, darauf aufbauend sich einschlägig weiter auf dem Gebiet erotischer Poesie sachkundig machen kann.
Für jedes Jahrhundert ist den Gedichten eine sehr kurze erläuternde Einführung vorangestellt, die durchaus, allerdings notwendigerweise kursiv, eine gelungene Hinführung zu dem, was einen nun erwartet, bietet.
Warum jedoch bei der allgemeinen Einführung, die sich einer -- ebenfalls sehr knapp gehaltenen -- recht guten Annäherung an den Umgang mit dem Wirken von "Gedicht" behutsam öffnet, man dann jedoch, wie ich es sehe,  lapidar mit "Wir beginnen unser Buch mit einem Aphorismus und lassen uns fallen in eine Welt höchser Dichtungskunst." (S.9) durch eben jenen Aphorismus ins eher Banale abfällt, bleibt mir unerfindlich. Der Aphorismus lautet: "Ein Gedicht sollte wie ein Dessous sein ... ein Hauch von Nichts überlässt die Gedanken der Phantasie." (Damaris Wieser)

Es ist nicht meine Aufgabe an dieser Stelle den inhaltlichen Wert dieses Aphorismus zu beurteilen. Jedenfalls paßt er nicht als Motto für den eigentlich recht gelungenen Gedichtband; vielleicht sind die Verfasser da dem Impetus, daß es schließlich um erotische Gedichte gehen soll, zu sehr und zu einfach gestrickt erlegen ...

All die dargebotenen Gedichte bedürfen sicherlich gerade nicht jenes "Hauches von Nichts, um die Gedanken der Phantasie zu überlassen" (wie immer das auch zu bewerkstelligen sein sollte ....); weder inhaltlich noch bildhaft paßt jener Aphorismus zu dem, was man dann letztlich in einem sehr positiven Sinn zu lesen bekommt! Für mich klingt jener Aphorismus schon eher nach einem Slogan der Unterwäschewerbeabteilung als nach subtilem philosophischem und / oder erotischem Bezug. Grundsätzlich ist die Idee, mit einem Aphorismus auf eigentliche Inhalte überzuleiten, durchaus eine gute Möglichkeit, Leser zielführend einzubinden. Aber dann sollte es schon etwas "von Gewicht" sein ...

Das 17. Jahrhundert beginnt mit einem Gedicht von Martin Opitz, in dem Gegenwart und Vergänglichkeit gleichermaßen thematisiert werden, dies mit dem "Drang" das Jetzt wahrzunehmen, solange es eben auf dem Weg in die Vergänglichkeit noch möglich ist (Ach Liebste). Diese Düsternis (so als Gegenstück zu dem carpe diem!), oder sollte man besser sagen: diese Unausweichlichkeit?, kommt auch in seinem zweiten Gedicht "Mein seuffzen" deutlich zur Geltung. Oder in moderner Diktion: Get while the getting is good. Weiter findet man Gedichte von Georg Rudolf Weckherlin,  Hans Aßmann Freiherr von Abschatz (so heißt es in seinem "Celadon" unter anderem: "... Die rothen Zucker-Klippen / Die Balsam-reichen Lippen. / Laßt Bienen auff den Klee / Nach süsser Nahrung fliegen! / ...), Heinrich Mühlpfort ("Auff die Brüste meiner Liebsten": ... / Die Circkel hat die Anmuth selbst geschlossen. / Hier quillt der Strohm der Wollust ausgegossen / ...), Johann Christian Günther ("Als er dasm was er liebte, entbehren musste"), Christian Hölmann ("Der bewachende Seuffzer": ... / Doch wo sie am schönsten ist / Küst das paar der netten hände / küst das auge / küst den mund / küst der brüste Marmel-wände / Küst bis alles werde wund. / ..) sowie Werke eines anonymen Barockdichters aus der Neukirsch-Sammlung ("... / Drückt vielmehr den zarten sinnen / Diese letzten Wörter ein: / Lieben muß die zeit gewinnen / Und nicht lange schläffrig seyn.")

Im Vorwort zum 18. Jahrhundert heißt es unter anderem: "Die Liebe der Rokokodame war aber nicht aus der Leidenschaft geboren, sondern war mehr ein erotisches Tändeln und Geflirte, nur ein Spiel, allerdings eines mit dem Feuer" (S.41). Diesen Gedichten ist eine sehr ästhetische schwarz-weiß Aufnahme eines nackten Körpers vorangestellt, zudem wieder zur Einstimmung in die Epoche ein "berühmtes Paar". Waren es zuvor noch Romeo und Julia, "das tragische Traumpaar -- die unendliche Liebesgeschichte" unter dem Motto "Liebe und Tod" (S. 13), so finden wir nun unter "Die Kurtisane und der König"  Madame de Pompadour und König Ludwig XV (S. 44) mit dem zarten Hinweis auf größte Leidenschaft, ständig neue Liebesabenteuer und abundante Verschwendung.
Wir finden Goethes "Brautnacht" ( ... Wie schlägt dein Herz beim Schlag der Stunde, / Der deiner Gäste Lärm verjagt! /  Wie glühst du nach dem schönen Munde, / Der bald verstummt und nichts versagt! / Du eilst, um alles zu vollenden, / Mir ihr ins Heiligtum hinein; / ...), Gottfried August Bürgers "Liebeszauber", Friedrich Schillers "Männerwürde", Gotthold Ephraim Lessings "Die schlafende Laura" und Ludwig Uhlands "Liebesfeuer".

Im 19. Jahrhundert "setzte sich (...) die bürgerlich romantische Liebe allmählich durch." (S. 57) Auch hier zum Vorwort wieder eine sehr gelungene und ästhetische Nacktaufnahme, diesmal vom weiblichen Po. "Sexuelle Dinge blieben für niemanden ein Geheimnis." (ebd.) Als Beispiel dient hier erneut ein "berühmtes Paar: Lady und Lord Hamilton". (S.58)
Heinrich Heine darf diesen Abschnitt beginnen, mit seinem "Hohelied" (... / Versenken will ich mich, o Herr, / In deines Liedes Prächten; / Ich widme seinem Studium / Den Tag mitsamt den Nächten. / ...). Es folgt "Trauriges Erwachen" (Theodor Fontane); wo der gute Mensch höchste Liebes- und Sinneswonnen erfährt, dann aber jäh aufwacht und erkennen muß, daß all das Schöne eben "nur" geträumt war. Wir finden dann ein kurzes Gedicht von Theodor Storm ("Wer je geliebt in Liebesarmen"), Clara Müllers "Flamme" (... / Die Glut bin ich -- und du bist mein! / wirf ab, wirf ab das Alltagskleid: / gib deine ganze Seele hin / in ihrer nackten Herrlichkeit! " ...), Otto Julius Bierbaums "Rosenopfer" (... / Liebliche, oh nimm mich hin, / Daß ich neu erwarme; / Aphrodite, Schenkerin, Nimm mich in die Arme. / ...); schließlich noch Christian Morgensterns "Hier im Wald" (Hier im Wald mit dir zu liegen, / moosgebettet, windumatmet, / ... )  -- einmal so ganz fern seiner sehr bekannten "Galgenlieder" ...

Wallis Simpson und König Edward VIII (der wegen dieser Liebe auf den englischen Thron verzichtete!) dienen als "Berühmtes Paar" (S. 71) für das 20. Jahrhundert.
"Heute bildet die Liebe ein zentrales Moment der Individualisierung" und "Sexualität (...) dient im 20. (inklusive dem jungen 21.) Jahrhundert in zunehmenden Maße der Selbstverwirklichung." (S. 70)
Unterstrichen wird diese Einschätzung einem Gedicht von Max Dauthendey (Du gabst mir deinen kleinen, weichen Leib, / ...), es folgt von Felix Dörmann "Madonne Lucia" (... / Es brennt und zuckt und zittert / Morphiumgesättigt ihr Leib. / Jedwede Muskelfaser / sich zum Zerreißen dehnt, / Die schrankenlosesten Freuden / Das trunkene Hirn ersehnt. / ....), anschließend von Joachim Ringelnatz "Ferngruß von Bett zu Bett" (... / Weißt du noch, wie verwegen / Die Lust uns stand? Und wie es roch? / Und all die seidenen Kissen / ...). Beschlossen wird der Gedichtband mit "Zum Fest", gedichtet von Rainer Maria Rilke. Wie heißt es da zu Beginn so schön: "Heut sind wir endlich allein, und von Gästen / droht uns ganz sicher heut keine Gefahr / (...)" (S.75)

Diese Gedichte gibt es auch als Hörbuch in Form einer Audio-CD.

Wer subtile Anspielung auf Erotik liebt, wer die Worte in eigene Phantasie überzuführen versteht, wird mit dieser Gedichtauswahl durchaus seine Freude haben; wer jedoch die hardcoremäßige Direktheit bis hin zu plumper rapphafter Überdeutlichkeit (nicht selten mit dem Hang zum Ordinären versehen) bevorzugt, wird mit dieser ästhetischen Poesie wohl weniger anfangen, sie vielleicht nicht einmal als "erotisch" empfinden können.

Ich persönlich finde das Bändchen sehr, sehr gelungen, es zeigt einen -- der Kürze gebotenen -- sehr informativen relativen Überblick, regt vor allem zu weiterer eigener Suche nach dichterischen Ausdrucksformen an, vielleicht sogar auch einmal zu Versuchen, die persönlich-individuellen einschlägigen Gedanken in Gedichtform festzuhalten ... Wer weiß.

Und für die "richtige" Person eignet sich dieser Band auch sehr gut als kleine Aufmerksamkeit.

Von mir also: rundum eine Empfehlung (trotz der eingangs erwähnten partiellen "Anonymität" ...)!



15 Amalie Skram, Teil 1: "Professor Hieronimus"  sowie Teil 2: "In St. Jorgen" (Guggolz Verlag Berlin o.J., ), Original: Paa St. Jorgen 1895, aus dem Norwegischen übersetzt von Christel Hildebrandt
           Ein Doppelroman, zwei Romane Skrams, thematisch aufeinander bezogen, in einem Buch vereint


"Professor Hieronimus", ein Roman von Amalie Skram (1846 - 1905). Geschildert wird das Schicksal der Malerin Else Kant, hinter der sich Amalie Skram selbst und ihre Erfahrungen verbergen. Else Kants Gesundheit ist schlecht, Depressionen quälen sie und sie leidet unter Schlaflosigkeit. Auch mit ihrer Arbeit, dem Malen, geht es nicht gut weiter. So entschließt sie sich zu einem -- wie sich später herausstellen wird -- fatalen Schritt: sie begibt sich freiwillig in eine psychiatrische Klinik, um dort wieder zu gesunden. Dabei denkt sie, daß ihr Aufenthalt dort nur "ein paar Tage" dauern soll. Bei ihrem Plan wird sie auch von ihrem Mann unterstützt. Beide erhoffen sich von dem als Koryphäe geltenden Professor Hiernonimus wirksame Hilfe. Else Kant ist eigentlich eine selbstbewußte und selbstbestimmte Frau. Allerdings entwickeln sich die Geschehnisse anders als geplant: als sich die Tore der Anstalt hinter ihr schließen, ist es vorbei mit der Selbstbestimmung, auch mit der ursprünglichen Freiwilligkeit, und es beginnt ein unglaublicher Alptraum für sie ... Die ursprüngliche freiwillige Einweisung gerät nun zu einem Zwangsaufenthalt, gegen ihren Willen wird sie in der Anstalt festgehalten. Ihr wird jegliche Kontrolle über sich selbst genommen, sie erleidet eine totale Fremdbestimmung.

Amalie Skram hat -- besonders für die damalige Zeit -- ein recht bewegtes Leben: unangepaßt, selbständig, zweimal geschieden -- durchaus Voraussetzungen, die mit den (nur damals?) herrschenden Konventionen schwer bis gar nicht zu vereinbaren waren. Aber stets beharrte sie für sich und für die von ihr bearbeiteten Frauencharaktere auf Autonomie. Damit war sie ihrer Gesellschaft natürlich weit voraus. (Sicherlich gab es immer wieder und zu allen Zeiten Frauenfiguren, die sich autonom verhielten und in diesem Sinne mit sich und mit ihrer Umweld rangen, aber sie waren alles andere als nennenswert an Zahl.) Else Kant hört entsprechend auch nicht in einer nahezu aussichtslosen Situation nicht auf zu kämpfen. Der Kampf und all die Widrigkeiten werden im Roman sehr deutlich, gut nachvollziehbar und geradezu zum "Mitleiden animierend" eindrucksvoll geschildert. Die jeweiligen Akteure erhalten ihre angemessenen, ganz klare Konturen und letztlich -- nach einem stellenweise fast aussichtslos erscheinenden Kampf! -- setzt Else Kant sich durch, sieht das moralische Recht auf ihrer Seite. Besonders drastisch auch der Wandel im allgemeinen Erkenntnisprozeß: die einst so gefeierte Koryphäe Professor Hieronimus erweist sich -- so allerdings nur vage Andeutungen (denen Else Kant aus eigenen Überlegungen einer relativierenden Sichtweise hinsichtlich Krankheitsbilder nicht zu folgen vermag, s.u.) -- selbst als geisteskrank; ihn derart zu durchschauen war dem System offensichtlich nicht möglich, er wurde von (fast) allen Seiten als sakrosankt empfunden und auch so gestützt.

Eigene Erfahrungen hat die Norwegerin Amalie Skram also in ihrem Roman von 1895 verarbeitet. Sie war in einer Psychiatrie-Hölle des 19. Jahrhundert in die Verzweiflung getrieben worden; sie ist ihr dennoch entronnen -- weil sie letztlich doch an sich und ihre (latente) Kraft geglaubt hat, vor allem aber auch an: Gerechtigkeit. Es ist bekannt, daß es in der Psychiatrie damals häufig darum ging, den Willen von Patienten und Patientinnen zu brechen. Damals? Können wir wirklich sicher sein, daß, trotz aller Fortschritte auch auf dem Gebiet der psychiatrischen Behandlungsformen, nicht auch noch Reste jener alten Traditionen ihre engen Pfründe hegen und treiben lassen? Fälle wie der des Gustl Mollath zwingen durchaus zu kritischer Distanz gegenüber allzu großer Euphorie und Hoffnungen. Jedenfalls ist genaues Hinschauen, gezieltes Hinterfragen durchaus angeraten! Manches, was in Amalie Skrams "Professor Hieronimus" berichtet wird, klingt auch heute leider nicht immer so nach garantiert überwundender Vergangenheit: Ruhigstellen mit harten Drogen als Ersatz für empathische Zuwendung, Beratungs- und informationsresistente Halbgötter in Weiß (die schon mal schnell und voreilig mit Etikattierungen arbeiten, vielleicht auch, weil Zeit, Geduld und wohl auch Kompetenz für gründliches Erforschen und Erspüren von Ursachen in der klinischen Alltagspraxis fehlen), mangelnde Fähigkeit zu Perspektivenwechsel (z.B. hinsichtlich Erlebens- und Erleidensqualität, in Bezug auf Gesundung und Weltsicht) -- durchaus einige Aspekte unter mehreren anderen, die man immer wieder hört oder liest, wenn es um Kritik am Gesundheitssystem geht ...

Ursprünglich, genauer: vor ihrer freiwilligen Einweisung in die Anstalt, hatte sie -- wie die meisten anderen auch -- eine hohe Meinung von Professor Hieronimus. In einem Beratungsgespräch mit Knut, dem besorgten Ehemann, meint der befreundete Hausarzt Dr. Tvede zu ihm, Elses besorgniserregender Zustand (vor allem die Schlaflosigkeit) könne allenfalls gebessert werden, wenn sie zur Ruhe komme. Dies sei ein erster, vielleicht zielführender Schritt: "Wir müssen sehen, dass sie zur Ruhe kommt, Sie muss fort von zu Hause, in ein Krankenhaus. An keinem anderen Ort wird sie die Ruhe finden, die sie braucht." (S.22)  Und Dr. Tvede rät zu einer Privatklinik, denn Else wird es nicht "akzeptieren, mit einem Haufen hysterischer Frauenzimmer zusammenzuwohnen". (S.22) Und er ergänzt: "Aber es gibt da den Professor Hieronimus. Er ist der Beste, vor ihm hat sie Respekt. Sie hat eine seiner Abhandlungen gelesen und schon mehrere Male mit mir über ihn gesprochen." (S.22) Und so schreibt ihm der Arzt einen Überweisungsschein zwecks Kontaktaufnahme aus. Die erste Kontaktaufnahme mit Hieronimus verlief recht unpersönlich, er wirkte eher kurz angebunden, sodaß Knut nach dieser Erstbegegnung schon zweifelte, ob "es das Richtige ist, was wir hier tun" (S.33), was Else zwar mit der Frage "Warum sollte es nicht ds Richtige sein, was wir hier tun?" beantwortete; gleichzeitig verunsicherte sie "die verzweifelte, skeptische Miene ihres Mannes". (S.33) Letztlich paßte die Erstbegegnung mit Hieronimus (er hatte damals sogleich darauf verwiesen, was ihm offensichtlich besonders am Herzen lag: "Im Büro erfahren Sie, welche Kautionssumme verlangt wird und wie hoch der Preis für die Privatpflege ist." S.33 Und außer einer "Tasche mit den notwendigen Toilettensachen und Nachtwäsche" brauche sie nichts mitzubringen. ebd.)

Den meisten Lesern dürfte -- auch ohne vorherige Detailkenntnisse -- die Art des Professors zumindest seltsam, wenn nicht gar zuwider vorkommen. Else empfand dann bei ihrer Aufnahme auch einige Dinge, so das Schließen der Türen, als irritierend, sprach sogar von einem Gefängnisvergleich. Aber noch klappten sie: die unternommenen Beruhigungs- und Verharmlosungsversuche. Aber dies alles änderte sich sehr bald. So war die Bitte an eine Krankenschwester, einen Brief Elses Mann Knut zukommen zu lassen, vergebens, das dürfe sie nicht, dies wäre "ja, als bräche man einen Amtseid". (S.126)  Das folgende Gefühl wird in folgende Worte gefaßt: "Ja. Else verstand das nur zu gut. Keine Rettung, keine Hoffnung. Sie fühlte sich wie lebendig begraben." (S.126) Jene Krankenschwester ergänzte dann noch, sie, also Else, sollte "lieber alles daran setzen, dem Professor gegenüber so freundlich wie möglich zu sein, ja am besten geradezu demütig. Er ist das gewohnt." (S.126) Zu jenem Zeitpunkt hatte Else längst jegliche Achtung vor Professor Hieronimus auf das gebotene Maß abgesenkt: "Jedes Mal, wenn sie die Schritte des Professors hörte, begann ihr Herz heftig zu schlagen und sie zitterte vor Widerwillen. Und selbst wenn er freundlich mit ihr sprach wie jetzt, strotzte seine Stimme so vor Selbstzufriedenheit, dass sie Else noch unangenehmer erschien, als wenn er höhnisch und arrogant auftrat." (S.126) Also eine Situation, die eher an ein Gefängnis erinnerte als an einen Ort, an dem man hätte gesunden können. Zudem sprachen auch die Isolationsmaßnahmen für die Gefängnisassoziation ... Soweit war es also mit der ursprünglichen freiwilligen Einweisung bekommen: das Resultat war absoluter Zwang, ärztliche Selbstherrlichkeit, diktatorische Gepflogenheiten.

Die Entsprechung des Professors Hieronimus im richtigen Leben war Knud Pontoppidan (10. Juli 1857 - 21. Oktober 1916), den Amalie Skram in der öffentlichen Klinik Kommunehospitalet in Kopenhagen kennengelernt hat. Jener war berühmt und verehrt, auch Amalie Skram hatte anfangs eine hohe Meinung als auch Erwartungshaltung an ihn. Er galt ja als klug, human, fortschrittlich und human gesonnen. Schnell mußte Amalie Skram dieses Bild jedoch durch ihre schmerzlichen Erfahrungen revidieren ... "Statt eines klugen und humanen Mannes trifft sie auf einen typischen Halbgott in Weiß, der vollständige Unterwerfung fordert und nichts unversucht lässt, um den Willen seiner Patientin zu brechen. Individuelle Behandlung findet nicht statt., die Kranken werden mit harten Drogen vollgestopft." (Gabriele Haefs, Nachwort, S.451f.) Später wurde Amalie Skram in die Anstalt St. Hans Hospital in Roskilde verlegt. Letztlich gelang es ihr nach vielem Leiden durch ihre hohe Intelligenz und Beharrlichkeit, den psychiatrischen Fängen jenes Arztes zu entkommen. Soweit kursiv der autobiographische Hintergrund Amalie Skrams Leidengeschichte auf ihrer Suche nach Gesundung über die Psychiatrie ...

Paradox mutet es schon an, daß Else dem Professor Hieronimus erst durch eine Verlegung in das richtige Irrenhaus St. Jorgen entkommen kann. Längst hatte sie erkannt, daß Hieronimus nicht aus seiner Haut kann, daß er Diktator, Intrigant und Sadist zugleich ist. Sie zieht also deshalb -- wohl auch geschickterweise in diesem konkreten Fall! -- die eigentliche Irrenanstalt vor. Dort gibt es verständigere Ärzte -- so der 2. Teil des Doppelromans. Man kann durchaus feststellen, daß Else faktisch Hieronimus analysiert hat und nicht umgekehrt, wie es eigentlich sein sollte. In der ganzen Geschichte spiegeln sich die gesellschaftliche Doppelmoral und Unterdrückungsmethoden wider. Auch wird die Stellung der Frau in der Gesellschaft, wird die patriarchalische Struktur derselben, aufgegriffen. Insofern führt Amalie Skram die durch Ibsens Dramen verstärkt aufgegriffene Frauenfrage weiter. Sie ist das, was man heute Feministin nennen würde. Man muß diese drastisch geschilderten Situationen vom Anfang bis zum Ende des Geschehens lesen, will man einen Einblick in Tabus, in das Rätselhafte, auch in das soziale Elend, vor allem aber über die verschiedenen Formen von Machtgefüge und Machtausübung auf der einen Seite und von Hilflosigkeit als auch Resignation auf der anderen Seite erspüren. Dabei ist es beachtenswert, daß trotz allen erlebten Elends die Protagonistin letztlich wieder relativ selbstbestimmt ihren Boden unter den Füßen findet. Auch aufschlußreich die Schilderung der Interaktionen mit dem etwas humaneren Oberarzt dann in St. Jorgen. Hier zeigt sich, daß trotz aller Versuche um Liberalität die Fänge alter, hierarchischer Traditionen (hier die des Hieronimus und seiner vorgeblichen Reputation) entwicklungshemmend ihre Wirkung entfachen.

Bisweilen liest und hört man in Interpretationen, daß schließlich der Professor Hieronimus selbst geisteskrank geworden ist. Diese Auffassung entspringt meiner Meinung nach der falschen Auslegunge einer entsprechenden Textpassage im 2. Teil: "Zum Schluß begann die junge Dame über Hieronimus zu reden. Es gab so viele Geschichten über ihn, und es kursierte das Gerücht, dass er selbst geisteskrank sei. In seiner Familie sollte es auch einige merkwürdige Personen geben. Sein Vater war ein richtiger Sonderling gewesen." (S.415)
Diese Wendung wäre natürlich von Dürrenmattschen Dimensionen, würde vielleicht auch so manchen gefallen, ist aber höchstwahrscheinlich die falsche Auslegung. Denn Amalie Skram ging es gerade darum, nicht aus einzelnen, von wem auch immer als Merkwürdigkeit empfunden bzw. bezichtigten Erscheinungs- und Verhaltensformen auf psychische Krankheitsbilder zu schließen; sie verwahrte sich stets gerade gegen die Vereinfachungen in der Psychiatrie, sie wandte sich gegen die zeitgenössische Psychiatrie mit ihren Methoden, damit auch gegen ein System, das derartige Auswüchse duldet oder gar fördert. Sie bekämpfte so auch die herkömmliche Definitionen von Krankheit. Insofern ist es nur folgerichtig, wenn Amalie Skram ihre Else Kant nicht auf das Gerücht, Hieronimus wäre selbst psychisch krank, einsteigen läßt. Zugegeben, die Versuchung, so zu verfahren, dürfte bei den allermeisten Menschen groß, vielleicht sogar naheliegend, sein. weil eventuell -- je nach Naturell -- entlastend, befreiend wirkend. Nicht jedoch bei all jenen, die ein komplexeres Bild anerkennen und sich mit diesem sinnvollerweise auseinandersetzen. Else Kant hat Hieronimus deutlich geschrieben, was sie von ihm hält, welchen für ein Typus er in ihren Augen verkörpert. Man könnte es auch so formulieren: Else gesteht jenem Ungeheuer in der Psychiatrie nicht eine Art Rechtfertigung mittels Erklärung durch und Entlastung über Krankheit zu. Und bezüglich dessen möglicher, von anderen angedeuteter Geisteskrankheit stellt sie konsequenterweise nach der entsprechenden Einlassung einer jungen Dame für sich selbst fest: "Geisteskrank, dachte sie unter anderem. Ja, das war natürlich eine naheliegende Erklärung. Aber viel zu banal. Außerdem erschien sie ihr geradezu abstoßend, war es doch die gleiche Erklärung, die Hieronimus vorgebracht hatte, als er bei ihr auf ein Verhalten stieß, das er nicht verstand. Beweise für die Geisteskrankheit eines Menschen zu suchen, weil es in dessen Familie Auffälligkeiten und sonderbare Verhaltensweisen gab -- mit so einer Vorgehensweise musste man äußerst vorsichtig sein. Denn das war genau etwas, wodurch Hieronimus sich bestätigt fühle, wenn er Leute für geisteskrank erklärte, hatte die junge Dame berichtet; Ihr Vater hat die Pfarrer gehasst, Ihre Mutter war pietistisch, Ihr Bruder hatte sich scheiden lassen und wieder geheiratet, Ihre Schwester hatte sich das Leben genommen, Ihr Sohn benimmt sich unmöglich: Ergo sind Sie geisteskrank. Nein, Hieronimus war einfach nur ein aufgeblasener, arroganter Kerl. Ein Mann, der an seine Unfehlbarkeit glaubte wie die Katholiken an das Wunder der Heiligen Jungfrau. Und was hätte ihm das gebracht, wäre er nicht so ein tüchtiger theoretischer Wissenschaftler gewesen? Was hatten Theorie und Praxis in einem Fach wie seinem miteinander zu tun? Offensichtlich herzlich wenig. Sein ganzes Auftreten Else gegenüber war diktiert von Fehleinschätzung, die aus seiner Arroganz geboren war. Ganz naiv war er sich in einer Bewertung wie der folgenden sicher gewesen: Wenn sich jemand gegenüber Professor Hieronimus nicht demütig in den Staub warf, so musste er wahnsinnig sein. Als er Knut erklärt hatte, sie sei 'vollkommen verrückt', war er sicher selbst davon überzeugt gewesen."

Wenn man das so liest, das alles zur Kenntnis nimmt, wenn man dann noch weiß, der Doppelroman ist vor langer, langer Zeit, 1895, erschienen, wenn man dann in die Jetztzeit schwenkt, an die Akte Gustl Mollath denkt, wenn man dann sich noch beispielsweis an jene beiden Steuerfahnder aus Hessen erinnert, die an der -- aufgabenmäßig eigentlich gebotenen -- Aufklärung von Steuervergehen von höherer Warte gehindert wurden, dann als sie sich nicht entsprechend subaltern verhielten und stattdessen weiter ihre Pflichtaufgaben erfüllten, auf Anweisung der Psychiatrie zugeführt wurden, ja, wenn man so -- aktuell -- um sich blickt, auf Bewertungsmodi, auf das häufig doch alles andere als um Objektivität bemühte Beurteilungswesen, schaut, auf die grassierende Politische Korrektheit mit Mißfallen reagiert, eigentlich: reagieren muß, ja, wenn man ... und, und, und ..., dann könnte man glatt die Ansicht gewinnen, es habe sich seit damals doch nicht so viel, wie man es vielleicht gerne hätte, zum Besseren verändert. Was bleibt aber dennoch? Die Hoffnung -- und diese stirbt bekanntlich zuletzt. In diesem Sinne: das Buch nicht nur einmal lesen, sondern obendrein die Inhalte immer wieder mit der herrschenden Wirklichkeit, wo immer sie einem entsprechend begegnen mag, ab- und vergleichen! Und all denjenigen, die hier auf Dogmatismus, auf Rechthaberei, auf Platzhirschmentalität u.a. setzen, sich sakrosankt zu geben versuchen: den Spiegel vorhalten, immer wieder!


16 Die Städter von Adrian Naef (Weissbooks GmbH  Frankfurt a. Main 2011)
           Ein hervorragender (autobiographischer) Roman, teilweise mit Hintergrundinformation über "Szenendaseinsweisen", detaillierte Einsichten in persönliche Entwicklungs- und Entfaltungsgrenzen sowie zahlreiche gesellschaftspolitische Aspekte
Adrian Naefs Roman ist offensichtlich ein sehr autobiographischer. Naef, 1948 in Wallisellen, einer politischen Gemeinde im Bezirk Bülach des Kantons Zürich in der Schweiz, geboren hat das "Land" hautnah erlebt, hat dabei jedoch durch seinen Vater immer wieder auch "Stadtluft", dieses Stadtflair schnuppern können und hat sich letztlich dann als doch sehr überzeugter Städter eingebettet. Adrian Naef ist schon früh dann nach Zürich gezogen. Der Roman wird vielfach als "Zürich-Roman" gekennzeichnet (man kennt ja derartige Analogien z.B. "Frankfurt-Roman", so z.B. in Wilhelm Genazinos Schaffen), wobei ich der Meinung bin, diese Kategorisierung engt den tatsächlichen Inhalt, all die geschilderten Geschehnisse und Erfahrungen zu sehr ein, zumindest was die Lokalität betrifft. Naef hat sehr viele Erfahrungen auch in anderen europäischen Städten sammeln können, vor allem aber auch in Deutschland. Man kann summa summarum seinen Roman durchaus als das Hohelied auf das Stadtdasein sehen, gerät dabei jedoch dann sehr leicht in die Gefahr, all die geschilderten Widrigkeiten und gesellschaftlichen Widersprüche, die im Roman zutage treten, zu gering zu achten. Vor allem auch die verschiedenen Formen gelebter Verlogenheiten, Selbsttäuschungen und all die gescheiterten Versuche, ohne Lüge leben zu wollen ... Gerade die Schweinwelten, die Arroganz und auch -- man kann es durchaus so sagen -- die Armseligkeiten der Achtundsechziger-Bewegung bekommen im Roman die Maske vom Gesicht gerissen. Dabei zeigt Adrian Naef nicht mit seinem Finger nur auf andere, sondern bekennt sich zu all den eigenen Traumvorstellungen, Realitätsverleugnungen und Irrwegen. Er zeigt sich eben in der Retrospektive sehr kritisch mit alledem, was da einmal war (und in vielen Fällen noch weiter sein mehr oder weniger klägliches Dasein fristet); er geht mit sich selbst eben auch scharf ins Gericht,  erzählt und erklärt eben was Aufwachsen, was Sozialisation, was Enkulturation bedeutet. Vor allem aber auch: wie Irrwege aussehen, wie sie zahlreich möglich sind. Auch das scheint mir eine Art Humus von Stadt zu sein: euphemistische Verklärung von tatsächlich oder angeblich neu Entdecktem, neu Erkanntem, also auch die weithin praktizierte Möglichkeit, Selbsttäuschungen fortzuleben und als Fortschritt bzw. Modernität zu verkaufen.
Natürlich ist "die Stadt" auch ein besonders guter Nährboden für Antworten auf soziale und politische Fragestellungen, selbstverständlich ist sie ein großes Experimentierfeld, neue Wagnisse einzugehen, mit anderen Formen von Verantwortung sich zu versuchen und vor allem bietet "die Stadt" in aller Regel viel mehr Anreize und "Mitmachfelder" als man sie gemeinhin dem Landleben zuschreibt. Vor allem zwei Kategorien sind für Adrian Naef bemerkenswert, wenn man sich dem Vergleich Stadt versus Land stellt: "Stadt ist, was denkbar ist. Land ist, was möglich ist." (S. 502) Aber so einfach dürfte es in Wirklichkeit nicht zu beantworten sein.
Das hieße doch, Phantasie zu sehr als eine städtische Domäne zu sehen. Ist es denn nicht vielmehr so, daß eine Überfülle von Angeboten, ein Übermaß an Herausforderungen, der enorme Druck des "Mitmachenmüssens", des "Janichtsversäumens", den Lockungen der Entschleunigung zu entsagen, auf Rückzugsphasen zu sehr zu verzichten, immer im Schein des "Wahrgenommenwerdens", des "Sich-zeigen-Müssens", u.a.m., daß all diese Forderungen und Herausforderungen einer echten Phantasie und ihrer Entwicklung eher abträglich sind? Kann Phantasie denn vieleicht nicht unter weniger Reizen, unter besser kontrollierbaren Voraussetzungen, sich gesünder, besser entwickeln, entfalten? Es ist ja sicherlich nicht so, daß Aspekte des Denkbaren und des Möglichen, des Nachdenkens über die Bedingungen von Möglichkeiten "auf dem Land" zwangsläufig ein Stiefmütterchendasein fristen müssen.

Im Epilog lenkt er dann auch eher den Blick darauf, daß die Stadt mittlerweile zur "Verlockung" geraten ist, und "das Kind will in die Verlockung -- und die Verlockung heißt Stadt." (S. 504) Und recht optimistisch findet er, die "Stadt" habe bisher alles überlebt und "wird kraft ewiger Gesetze alles überleben. Und die Agglomeration wird sich als globaler Lebensraum bewusst werden, das ist die gute Nachricht, das ist die Zukunft, ob wir wollen oder nicht. Wer wollte Gravitation umstoßen!" (S.504 f.) Und wer die Entwicklung im Jahr 2021 so beobachtet, wird wohl Naef zumindst ein kleines Quantum an prophetischer Gabe konstatieren: die Entwicklung geht rapide hin zu jener "Agglomeration". Vor diesem Hintergrund ist seine Feststellung "Heute ist die Stadt an jedem Ort angekommen." (S. 505) aus meiner Sicht -- sofern man den Umkehrschluß aus jener Agglomeration, aus jenem Trend zur völligen Inanspruchnahme, Inbesitznahme, zieht -- schon eher erschreckend, denn das hieße unter anderem ja, dem "Land" seine spezifischen Besonderheiten, das zumindest bis dato so gesehene Idyllische, eben auch: das Gegenteil von "Stadt" wegschmelzen zu lassen. Naef fragt am Ende seines Romans "Wohin geht das Kind?" und stellt in Erinnerung daran, wie sein Vater mit ihm in der Kindheit und frühen Jugend verfahren ist, fest "Kein Vater braucht es noch in die Stadt zu fahren." Sein Fazit zu diesem Gedanken dürfte nicht allzu kryptisch zu lesen sein: "Dass dies ein Verlust sei, weigere ich mich tapfer zu glauben." (S. 504) Trifft dies jedoch so zu, dann hieße das auch ein Verschwinden von Besonderheiten ... "Land" würde sich "Stadt" annähern und vice versa. Mit der Unterstützung der Sozialen Medien ist man da bereits auf dem Weg genereller Austauschbarkeiten ... Aus meiner Sicht ist das keine wünschenswerte Entwicklung.

Als eine der Besonderheiten von "Stadt" hat Adrian Naef auch die Bahnhöfe hervorgehoben. "Wo bereits ein Bahnhof ist, ist alles denkbar. Darum zieht es die Einsamen zum Bahnhof. Und darum geht der vom Land in die Stadt und landet gleich wieder beim Bahnhof. (...). Mehr als sich auf eine Bank im Bahnhof zu setzen, braucht einer nicht für sein Fünkchen Hoffnung: Gleich kommt sie vorbei, die Unvergleichliche, gleich fragt er nach Feuer, der Einzige, meine Flamme, mein Zukünftiger, gleich kommt er daher mit offenen Armen, mein Erlöser ... Gleich beachtet mich einer." (S. 502f.) Zuviel an Illusion? Sicherlich. Naef wirkt dabei keineswegs naiv, blauäugig, immer wieder führt er den Leser in (seine) Wirklichkeit zurück, konfrontiert ihn mit Tatsachen, ja, auch mit Formen der (Selbst-)Täuschung.  Ich habe beim Lesen seine beiden Aussagen "Stadt ist, was denkbar ist." und "Land ist, was möglich ist." keineswegs als trennscharf empfunden, nicht als eine einschränkungslose Kategorisierung. Vielmehr dürfte er auf damit auch darauf verwiesen haben, daß das Mögliche und das Denkbare nicht ausschließlich im Widerspruch verhaftet bleiben (müssen), sondern daß es sich hierbei auch um mögliche Zugänge zu einer eigenen Lebensgestaltung handeln kann, die beide ihren Wert und ihre Berechtigung auf der immerwährende Suche nach Fragen und Antworten haben. Letztlich bewegen wir uns hier im Spannungsfeld des "Wer bin ich?", des "Was bin ich?" und des "Was soll ich?". Und der sich daraus ergebende Spannungsbogen vom tiefsinnigen Grübeln über Daseinsfragen bis hin zum oberflächlichen Verdrängen eines Sich-stellen-zu-Müssens (dies beispielsweise heftig unterstützt durch die vielfältige "Fun-Industrien") dürfte zahlreichen Menschen vielleicht in der Stadt wegen der vielen Lockungen und Herausforderungen, die dort zu finden sind, die dort locken, die einen quasi zu einer Art des Mitschwimmens  "verpflichten", weniger aufdringlich, weniger herausfordernd erscheinen. Dies bedeutet freilich nicht,: vor innerer Leere und einem (entsprechend späteren) Bewußtsseinsdilemmas garantiert gefeit zu sein. Es gilt wohl auch hier: you can't run away from the price you pay ... (Die wie Pilze überall aus dem Boden schießenden "Helferindustrien" und "Heilsversprecher" zeugen davon doch offenkundig!)

Naef versucht eigentlich nie, die Wirklichkeit zu beschönigen, zu glorifizieren. Dies wird auch deutlich, wenn er in Abschnitten immer wieder das sogenannte "revolutionäre Dasein" der Salonrevoluzzer (vor allem der 68-Ägide) beschreibt, stellvertretend hierfür: " Aber es muss auch gesagt werden: Es wurde uns, jedenfalls hierzulande, leicht gemacht, uns aufzumachen. Wir wurden nicht vor Ultimaten gestellt auf Leben und Tod, wie die Geschwister Scholl oder die Leute um den Sänger Victor Jara in Chile oder die Kids im Musical 'Hair', die den Einberufungsbefehl nach Vietnam in der Tasche hatten." (S. 446) Wie aktuell, wie zeitlos, solche Feststellungen und Wirklichkeitseinschätzungen sind, kann man heute sehr gut an Fridays-for-Future, Black-Lives.Matter, an den diversen Auftritten für oder gegen Umweltschutz, für oder gegen Corona, vor allem auch an all den Unsinnigkeiten, hinter denen sich die Gender-Apologeten verstecken oder ihr neues Betätigungsfeld zur "Ich-Gewinnung" entdeckt haben, um nur ein paar Beispiele zu nennen, leicht aufzeigen: Es ist eben leicht --salopp formuliert -- das Maul aufzureißen, zu demonstrieren bis hin zum Randalieren, wenn man sich in sicherem Hafen befindet, wenn man persönlich nichts riskiert und wenn man sich , wie so viele all jener "Aufbegehrer" auf dem Fundament von Saturiertheit bewegt ... Viel Mut zeigt sich da wirklich nicht (sofern überhaupt einer ...), Risikobereitschaft dürfte auch weitgehend Fehlanzeige sein, von der eigentlich notwendigen geistigen Durchdringung der Themen, die einen so in Aufruhr versetzen, einmal ganz zu schweigen. Anders formuliert: Diskurs findet weitgehend bei jenen Veranstaltung und in deren Vorfeld nicht statt, für nicht wenige ist das alles nur ein Feld, um möglichst die eigene brüchige Identität zu kompensieren. Auch diese Aufmärsche bis hin zur Randale sind allerdings -- zumindest bislang noch -- eher ein Merkmal von Stadt als das des Landlebens ...

Und wenn Naef dann wiederholt auch schon mal einige "Schrecken" der Stadt aufzählt, dann geschieht das nicht um anderen "die Stadt" gänzlich madig zu machen, sondern eher aus einer Mischung aus Realitätssinn, Hoffnung und Blick für Möglichkeiten, vor allem auch aus einem Wissen um menschliche Begrenztheiten, Offenheiten (=der Mench als unbeschriebenes Blatt ...) sowie immer wieder durchbrechende Träumereien gleichermaßen: "Alles spräche gegen die Schreckliche, die Stadt, wäre der Schrecken des Menschen vor sich selbst nicht noch größer, viel größer ..." (S. 482) Es ist also der Mensch selbst, der sich allzu oft allzu gerne in Fallen begibt, der sich bereitwillig die Vorgaben zum Spinnen des eigenen Netzes geistiger und emotionlaer Einengung zu Eigen macht, dies dann in der Vorstellung, er sei souverän, autonom, vor alllem nicht: fremdbestimmt. Wer gibt es denn schon gerne zu, einfach nur Mitläufer zu sein, Mitkrakeeler, Mitaufrührer, sich längst des eigenen Verstands beraubt zu haben, Begriffe wie Emanzipation und konstruktive Kriik lediglich als Monstranz zu bedienen und letzten Endes das zu sein, was er all jenen, die er vehement kritisiert, vorwirft: ein Arschloch?! Natürlich gibt es davon die Ausnahmen, wenige, die von Ernst, von Tiefsinn, vor allem von Verständnis und der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel wie auch zur Reflexion geleitet und in ihrem Verhalten bestimmt werden. Nochmals: jene mit echter Verantwortung sind -- (leider) die Wenigen, um sie herum, in ihrem Gefolge dann die Lauten, die Hohlen, die Unbedarften, die vorschnell Selbstgerechten! Und auch die Wenigen, also die Gescheiten, die Offenen, denen Falsifikation im Suchen nach Antworten kein Fremdwort ist, sind häufig dann letztlich Opfer: entweder sie können das ihnen sich stets aufdrängende Gefolge nicht mehr abschütteln oder sie finden -- dann natürlich in entsprechend bedeutsame (vor allem: finanziell sie stimulierende) Posten in genau jener Bürgerlichkeit, die sie zuvor so vehement bekämpft haben. Zweitranging bleibt für mich hier zunächst, ob dies logische Folge früheren Verhaltens oder einfach nur irgendwelche Umsstände waren, die dann zu jenen Wegen führten, entscheidend ist fehlende Stimmigkeit, ein Mangel, zwischen wirklichen Einsichten und nur eingebildeten trennen zu können. Herbeigeredetes, kritiklos Übernommenes waren noch nie ein solides Fundament für Persönlichkeitsbildung.

Naef beschreibt derart viele Mosaikstücke gesellschaftlichen Lebens, aber all das wirkt flüssig, nicht abgetrennt vom Ganzen, einfach weil er all jene Teilbereiche aus eigenem Erleben schildern kann, sie somit in eine bündige Geschichte kleidet, oder anders gewendet: all die Eindrücke, all das Tun, all das Ablehnen und Annehmen, all das Reflektorische, erscheinen als die Geschichte eines gelebten Daseins. Wer hier eine absolute Dichotimie zwischen "Stadt" und "Land" herausliest, dürfte die entscheidenden Nuancen übersehen / überlesen haben. "Es wird Zeit, Stadt ernst zu nehmen, statt sie zu verunglimpfen und nur als notwendiges Übel darzustellen, als Moloch, dem man sich am liebsten bei der erstbesten Gelegenheit entzieht" (S. 463) ist eine Aussage, die allenfalls retrospektive Gültigkeit für den Autor haben mag, wenn überhaupt das. Eher gilt: das eine ("Stadt") wie das andere "Land" ("Insel") sind zwei Seiten einer Medaille, was deutlich wird, wenn er schreibt: "(...), denn es ist längst bewiesen: Auf dem Land, auf der Insel, lauert dein wahres Ich, die Quelle aller Ängste, und dem will auch wohl im Ernst niemand begegnen. 'Die Insel' ist nachweisbar auch mit deinen sieben liebsten Büchern nicht zu bestehen, erst recht nicht mit deinem liebsten  Andern. Die Insel, die Landschaft, ist das Ende jeden Spaßes, dort lauert die Wahrheit. Nur Stadt bietet Ablenkung genug." (S.462 f.) Man mag es so erlebt haben, so erleben; ich kenne das anders aus eigenem Erleben: zumindest wenn man sich in der Stadt nicht ausschließlich und ungebremst der Turbulenz, den Verlockungen hingebt, um sich eben ja nicht selbst begegnen zu müssen. Und es ist auch möglich, die Insel zu bestehen, dort in die Tiefe gelebten Lebens einzutauchen. Reibungslos wird das jedoch weder in der Stadt (trotz Ablenkungsmöglichkeiten u.a.) noch auf "der Insel" ablaufen, dieses Spannungsgefüge gilt es überall auszuhalten und -- zu gestalten!

Aber in Naefs Buch wird deutlich, daß er selbst sich diesem Spannungsgefüge nie so ganz entzogen hat und immer wieder seinen modus vivendi gefunden hat. Einfach meisterlich all diese Schilderungen, diese gezeigte Selbsterkenntnis, das Aufzeichnen immerwährenden Ringens. Für mich war besonders auch sein Eintauchen in das Milieu der Achtundsechziger interessant, wie auch sein geistiger Ausflug in die Bedeutung der damaligen Musikszene (Adrian Naef war übrigens selbst Musiker!). Deshalb kurz seine Rückschau auf die 68er-Zeit: "Achtundsechziger, wie man den Stempel bald nennen würde, bestanden allerdings durchaus nicht nur aus uns, den paar tausenden Demonstrationen mit extralangen Haaren in exotischen Wohngemeinschaften. Es war dahinter eine ganze Generation unterwegs, zumeist nur innerlich, junge Männer und Frauen, die sich in provinziellen Verhältnissen nicht allzu weit aus dem Fenster neigen durften, aber umgehend nicht wiederzuerkennen waren, kamen sie von einem längeren Aufenthalt aus städtischen Verhältnissen zurück, wenn sie überhaupt zurückkamen aufs Land. Und wenn auch die große Revolution nicht ausbrach übers Jahr, so gerieten überlebte Werte doch gewaltig ins Rutschen. Mit Mief und Biederkeit der Nachkriegsjahre war endgültig und nachhaltig Schluss." (S. 445) Adrian Naef spricht hier auch von "der Verlogenheit der Väter-Generation" und von einer "satten Gemütlichkeit". Hierzu möchte ich nur zwei Anmerkungen machen: "Mief und Biederkeit" existieren weiterhin, freilich meist in anderen Ausprägungen und ebenso verhält es sich mit der "Verlogenheit" (hier muß man nicht mehr nur auf die "Väter-Generation" rekurrieren!) und der "sanften Bemütlichkeit" (die besonders als Ausfluß von Gewinninteressen der Freitzeitindustrie und medialer panem-et-circenses-Indoktrination ihr aktuelles Unwesen treibt!). Zweite Anmerkung: in einer Grazer WG, in der ich seinerzeit 3 Wochen verbrachte / verbringen durfte  erlebte ich genau diese Stadt-Land-Diskrepanz, was die Akzeptanz von "neuen" / "anderen" Denk- und Verhaltensweisen sowie Gestaltungsformen angeht ... Für mich aber eine sehr, sehr schöne Zeit, daran lasse ich keinen Zweifel. Und Adrian Naef resümmiert einmal mehr: "Erst wenn man zurückschaut, erkennt man den Weg um die Ecken herum, die niemand ahnen konnte und die mit der Zeit manchem Barrikadenstürmer zum Verhängnis wurden. Einige scheiterten am Höhenflug, der bald in ihrem Leben der Einzige gewesen sein sollte. Einige überschätzten ihre Kräfte und konnten es sich nicht verzeihen, bald im kleinbürgerlichen Milieu gelandet zu sein, das sei einmal verhöhnt hatten; es hatte sich nur umgehend neu ausgestattet. Jäh schlug Hoffnung in Verzweiflung um, wie nicht das erste Mal in der Geschichte. Einige zerbrachen daran, einige warfen ihre bisher lauthals geforderten Veranwortung für die Welt auf Jesus und lächelten nur noch wissend, andere machten sich auf den langen Marsch (Anm.: hier dürfte auch auf den "Marsch durch die Instutionen" abgehoben sein, auf dem letztlich die meisten vom System absorbiert wurden, meistens materiell dann zudem sehr gut abgesichert, d.V.), wieder andere zogen sich zurück in Wolkenkuckucksheime, einige verpuppten sich in ihren alten Fahnen, ohne je auszuschlüpfen, und einige wenige spien bald auf diese Zeit, als wären sie nicht ihre lautesten Verkünder gewesen." (S. 446)

Naef läßt die Leser teilhaben, daran wie man gute und schlechte Erfahrungen macht, läßt auch ein wenig die Zeit der freien Liebe (zunächst die mögliche Hemmungslosigkeit dank der Pille, der dann wieder folgenden Rückschlag durch AIDS ...) und die neuen Formen von Beziehungsgestaltungsversuchen aufblitzen, verweist auf den ideologischen Einfluß der Frankfurter Schule, konfrontiert einen mit (wohl sattsam bekannter) Spießigkeit und Forschrittseuphorie, mit den Wechselfällen des Lebens, auch mit Aspekten von "Kleider machen Leute", zeigt vor allem auch immer wieder die Vielfalt gedanklicher Welt und ohne mit dem belehrenden Zeigefinger zu drohen wird deutlich: Leben ist Problemelösen. Dies scheint ihm selbst übrigens auch immer wieder gelungen zu sein. Und auch heute dürften seine Einsichten und Erkenntnisse (ich schreibe diese Rezension im Juni 2021) gewiß nicht fremd klingen. So wenn er schreibt: "So oder so -- kein Achtundsechziger wurde geprüft von einer Not oder einer extremen Gewissensentscheidung, die sonst rechtzeitig Weizen von der Spreu trennt. Wenn es einem nicht selber zu dumm wurde, dürfte über Jahre alles Legend bleiben. Viele würden nach Jahrzehnten immer noch behaupten: Hätte die Jugend nachfolgender Generationen nur beständig den Mut zum Aufbruch gezeigt, den wir damals zeigten, die 'goldene Zeit' hätte eine goldene für uns alle werden müssen. Für alle Zeiten. Aber eben ... Andererseits hätte keiner daran gedacht, dass einmal eine Generation folgen würde, die die Auswahl von Klingeltönen fürs Telefon mehr beschäftigen würde als das Verschwinden des Regenwaldes, eine Generation, die die sofortige Entlassung einer korrekt Steuer bezahlenden Kassiererin wegen Unterschlagung -- vielmehr Vergessens -- von drei Franken mit dem gleichen politischen Desinteresse hinnehmen würde wie die Unterschlagung von Millionen und Milliarden seitens gewiefter Spekulanten mit posthum Rechnung an eben diese Steuerzahler ... War es denn die Psychologisierung von allem und jedem im Windschatten der Siebzigerjahre, die der simplen Empörung die Spitze brach? Die Verständnis für alles und jedes mit sich brachte?" (S.459)

Sind denn all die meisten derzeitigen Proteste gegen dieses und jenes nicht auf von dieser temporären Qualität, weil nicht enstsprechend durchdacht (Stichwort: echter Diskurs als Voraussetzung!) und eher strukturlos?! Auf einer ähnlichen oder gar noch schlimmeren Oberflächlichkeit fußend? Der Beobachter der Gegenwartszenen dürfte auch hier allzu Bekanntes wiederfinden, wenn Naef über Teile der Frauenwelt Dogmatisches schildert: "Auch die Frauenbewegung war schnell in die Jahre gekommen. Ihre Hohepriesterinnen hatten mit Humor und 'Tutti Frutti' (Anm. d. V.: eine saudumme Sendung, in der in schier endlose Reihenfolge zu dämlicher Musik Frauenbusen präsentiert wurden) nie viel anfangen können. Und wehe, eine der Jüngerinnen war plötzlich schwach geworden und zu einem männlichen Wesen zurückgekehrt! Erbarmungslosere Ausschlüsse habe ich nirgendwo gesehen, und absurdere Lebenskonzeptionen bin ich nicht wieder begegnet. In gewissen lesbischen Wohngemeinschaften und erst recht in abgeschotteten lesbischen Kommunen auf dem Land durfte nicht einmal ein männliches Tier über die Schwelle treten. (...) Alle als männlich geltenden Endsilben wurden überdies aus Namen getilgt und durch weibliche ersetzt. (...) In solchem Irrsinn waren nur die Widertäufer der Stadt -- aufs äußerste erstaunt, was da tatsächlich in der neu ins Deutsche übersetzte Bibel stand -- noch einen Zacken weiter gegangen, waren lallend auf dem Boden herumgekrochen, weil da stand, dass nur in das nahe Himmelreich komme, wer wie die Kinder sei ..." (S. 456) Und weiter schreibt er (S. 457 f.): "Als dann der gesunde Menschenverstand auch im Reich reinen Frauseins wieder Oberhand gewann und 'die Lauen' aus den Revieren des 'richtigen Glaubens' zurück ins gewöhnliche Leben sog, (...), sahen sich die verbliebenen handverlesenen Verkünderinnen genötigt, sich nun selber auszuhalten. Der Weg zur Esoterik war leicht gegangen, zumal die Achtzigerjahre nach Erzengeln verlangten. die Priesterinnen aus Lesbos schwenkten nahtlos zu religiösen oder psychologischen Sekten über. Umgehend, nach einem erstbesten Kurs, waren einige plötzlich ausgewiesene Expertinnen der astrologischen Beratung geworden. Machtbedürfnis findet geschlechtsneutral immer ihre schnelle geistige Wendung." Kommen einen derartige Wirrnisse bekannt vor, gibt es derartige oder ähnliche Exzesse in der Gegenwart? Zumindest strukturell sind sie unübersehbar: der Genderwahnsinn und andere Ableger seltsamer Vergeistigung lassen herzlich grüßen! Nur, lustig ist das nicht mehr -- vielleicht war es auch damals nicht so besonders lustig, wenngleich quantitativ von geringerem Einfluß --, denn diese Irrungen und Wirrungen kosten den Steuerzahler viel unnützes Geld (man denke nur an die entsprechenden Lehrstühle und andere Folgekosten!) und bringen sinnlose Streitigkeiten in eine Gesellschaft, die wahrlich wichtigere Probleme anzugehen hätte ... Wer Naefs Buch liest, wird immer wieder feststellen: eigentlich sehr aktuell ist das alles.

Einmal in seinem Buch hat sich Naefs folgendermaßen positioniert: "Meine Revolution fand auch eher in der Musik statt. Politischen Veränderungen traute ich wenig zu, von anderen ein Linker genannt zu werden, war mit eigenem Misstrauen verbunden. Ich war wohl vielmehr ein zorniger, jedem Lustgewinn schnell erlegener Moralist und Zwinglianer, ein Aufspürer von Lebenslügen anderer, darin erschreckend radikal, pflückte aber gerne die Sumpf-Röschen und ließ mich dabei ungern in den Sümpfen der gemeinen Niederungen der Stadt beschmutzen. Es musste stets etwas Edles bleiben im Getümmel." (S. 361) Na, geht doch. weg vom Mainstream, möchte ich da fast anmerken. Jedenfalls vielversprechender für die persönliche Entwicklung als beim Mainstram unter die Decke zu kriechen.

Ich kann dieses Buch wärmstens empfehlen, freilich wird man es sich mittlerweile antiquarisch oder in einer guten Bibliothek besorgen müssen. Vielleicht zur Ergänzung meiner Gedanken hier noch der kurze Steckbrief aus dem Klappentext: "Adrian Naef, geboren in Wallisellen (Schweiz), lebt in Zürich. Nach dem Studium der Ökonomie arbeitete er in der Jugend- und Erwachsenenbildung, als Religionslehrer, Journalist, Musiker und Schauspieler. Er ist Auto mehrere Bücher, u.a. Gott ist krank, sein Sohn hört Punk, sowie Lagebericht und Nachtgängers Logik.

Und weil ich weiter oben in Hinweisen auf die Vielfalt in  "Die Städter" auch auf den gesetzten Akzent Musik hingewiesen habe: es lohnt sich allein schon diese Kapitel zu lesen. Schnell wird nämlich klar, daß Adrian Naef sich nicht als "Liedermacher" sieht, daß er den Einfluß von Elvis Presley, dem ehemaligen "Lastwagenfahrer" auf die Geschicke der weiteren Entwicklung enorm hoch ansetzt, daß er sich nicht darüber wundert, daß Chuck Berry, "der Urvater des Rock und ewige Sklave der Musikindustrie" (S. 451) mit seinem Stil durchschlagenden Erfolg hatte und sich nie zu schade dafür war, selbst nach größtem Erfolg noch die einfache, schlichte Nähe zum Publikum zu suchen, daß er Bill Haley & The Comets als wesentlich für das musikalische Geschehen ansieht, daß er im zumindest implizit angesprochenen Einfluß von Musik versus Akademie, was den Einfluß auf gesellschaftliche Entwicklung angeht, die Sichtweise vertritt "Wenn der Blues beginnt, kann der Student nach Hause gehen." (S. 451) Und er ergänzt bescheiden und selbstkritisch: "Und ich war dann doch eher Student als Lastwagenfahrer, wie Elvis anfänglich einer gewesen war." (ebd.)

Rückblickend stellt er auch noch fest: "Hoffnung hatten wir damals, das war nicht das Problem. Was aber die Not betraf, so war sie nicht materieller Natur, wie Marx sie beschrieb, sondern vielmehr eine seelische und intellektuelle Verelendung im Tanz um das goldene Kalb. Die Verdummung durch Werbung war in vielen Augen etwas vom Schlimmsten, was dem Homo Sapiens bisher zugestoßen war. Jemand sagte damals öffentlich, 'er friere innerlich'. Das traf es, im Nachhinein gesehen, wohl auf den Kopf, ohne dass diese Aussage besonders aufgefallen wäre. Einem unserer Genossen kamen immer sogar die Tränen vor Manifestationen öffentlicher Stumpfheit." (S. 183)

All dies sollte aber auffallen, sollte einen "frieren" lassen, diese Vereinnahmungen und Fremdbestimmungsphalanx sollte man vehement bekämpfen! Das wäre eine wirkliche Aufgabe und Pflicht, sofern man am Homo Sapiens im Wortsinn überhaupt noch interessiert ist ... EIN GANZ HERVORRAGENDES BUCH!!!



17 ... Joseph von Westphalen (revisited) -- nach Jahren immer wieder erneut gelesen ....

Es begann, genau genommen, an einem Baggersee. Wir, damals eine Gruppe junger Leute -- ich darunter etwas älter -- blödelten immer wieder über alles Mögliche. tauchten regelmäßig in das schöne Gewässer, setzten uns -- hemmungslos -- der wärmenden (damals sicherlich nicht als doch auch ungesund empfundenen) Sonne aus, genossen unsere freie Zeit und unser Beisammensein. Natürlich gab es häufig auch ernsthafte Themen, die wir erörterten, bisweilen auch heiß, immer wieder auch: kontrovers, diskutierten. Eine mehr oder weniger unbeschwerte Zeit, die nicht selten am späteren Abend in einem nahen Biergarten verlängert wurde. Einmal -- nicht so ganz ernst gemeint -- kam im Zuge von immer wieder auftauchender "Staatsbetrachtung" der Gedanke auf, daß eine Monarchie den Bürgern vielleicht doch noch billiger käme als die gegenwärtigen schwerfälligen und kostenträchtigen Institutionen. Natürlich wollte niemand von uns eine Beseitigung von Demokratie, denn ausnahmslos erschien diese unter all den vielen möglichen "Volkslenkungen" noch als die beste aller Möglichkeiten. Gleichwohl machte es mir großen Spaß, diesen Gedanken einer Monarchie geistig fortzuspielen. Schnell kam der spöttische Einwand "Du natürlich dann als Monarch", den ich sonnen- und freizeitlaunig aufgriff, einen Einzug ins Schloß Neuschwanstein phantasierte, gleichzeitig all die Anwesenden mit Posten versah, darunter -- alles weder ernst oder gar bösartig gemeint -- eine explizit angesprochene Frau als "Chefsalaterin in der Schloßküche" und einen erklärten Kriegsdienstverweigerer als "Minister für Verteidigungs- und Wehrfragen" auserkor. Selbstredend daß dabei eine Kettenraucherin als "Gesundheitsministerin" herhalten mußte. Wie lustig das tatsächlich alles war, ablief, läßt sich eigentlich gar nicht so richtig beschreiben. Wir waren jung, fühlten uns frei (in jeglicher Hinsicht!), genossen die Idylle und lebten schlicht unser Leben wie auch unsere Neugierde.
Dann kam eines Tages, ein gutes halbes Jahr später,  die "Chefsalaterin", klingelte, meinte, sie habe mir zu meinem Geburtstag ein Buch gekauft. Etwas erstaunt und gleichermaßen neugierig  öffnete ich die Geschenkverpackung: meine erste Begegnung mit Joseph von Westphalen durch sein Buch "Warum ich Monarchist geworden bin"! Der Untertitel lautete vielvesprechend "Zwei Dutzend Entrüstungen"; es waren kurz gehaltene Gedanken, neben der Titelgeschichte, zu durchaus bekannten -- nicht selten auf einen sehr penetrant wirkende -- Phänomene. So unter anderem: Warum ich manchen Preisträgern lieber aus dem Wege gehe, Warum ich trotzdem Konsumfetischist bin, Warum ich Jeeps und ihre Fahrer hasse (ein weitsichtiger Vorgriff auf die später grassierende SUV-Verrücktheit, verrückt im mehrfachen Sinn, meine ich!). Warum ich nicht nach Amerika fahre (Leser von Wilhelm Genazino erinnern sich an seine Sentenz aus "Abschaffel": "In dem Gott sei Dank fernen Amerika" ...), Warum ich mich nicht selbst finden will, Warum ich mich trotzdem entrüste, Warum ich trotzdem Zeitung lese, um nur einige der "Entrüstungen" zu nennen.
Mich freute es sicherlich, daß die "Chefsalaterin", zweifellos an unsere Baggerseeblödeleien anknüpfend, da so inhaltsbezogen an mich gedacht hat. Aber damit begann auch dies: meine Begeisterung für diesen Schriftsteller! So fing es also mit Joseph von Westphalen an und las dann all das, was ich auch immer von ihm finden konnte. Diese sprachliche Eleganz und Exaktheit, diese bisweilen radikal gekonnte Schilderung von Personen, deren Gefühle, die diversen Beziehungs-Qualtitäten wie auch Verlogenheiten, dieser Blick in den Spiegel gesellschaftlicher Wirklichkeit, dabei stets lockere und die bildhaft genialen Sprachkonstruktionen und Wortfindungen, all das und noch vieles mehr machten Joseph von Westphalen zu einem ständigen Begleiter meiner Lesegewohnheiten. Der Klappentext vom "Monarchist" beschreibt es durchaus zutreffend: "Da regt sich einer auf, findet sich nicht ab, steht auch nicht weise darüber und ist schon mal überhaupt nicht heiter-besinnlich; hier entrüstet sich einer über Schrott und Pein der Postmoderne." (vgl. die Ausgabe: Haffmanns TB 1988, Erstausgabe Zürich 1985)

Der "Entrüstungsband" wurde übrigens fortgesetzt, mit "Fündundzwanzig Neue Entrüstungen", da mit der titelgebenden "Warum ich trotzdem Seitensprünge mache" (Haffmanns 1987) sowie unter anderen Warum ich trotzdem Schach spiele, Warum ich trotzdem schreibe, Warum ich trotzdem nicht baue und spare, Warum ich trotzdem fernsehe, Warum ich misanthropisch bin und bleibe, Warum ich trotzdem keine Fragen habe, Warum ich mich trotzdem nicht scheiden lasse, Warum ich trotzdem keine Zeit habe, Warum ich links und rechts trotzdem nicht verwechsle ... Teffend über diese "Entrüstungen" Jürg Scheuzger in der NZZ: "Westphalens Position: gegen alle, die sich in irgendeiner Ideologie oder gar in eienm Glauben sicher fühlen, gegen alles, was heute gefeiert wird, aber auch gegen alles, was nostalgisch verklärt wird." Oder aber Westphalen selbst: "Was immer einen abstößt, man sollte nie glauben, das Gegenteil sei besser. Die Vegetarier gehen einem ebenso auf die Nerven wie die Verzehrer von Schweinshaxen, die Amerikaner wie die Russen, die Singles wie die Paare, die Sammler wie die, die alles wegwerfen, die Alleswisser wie die Ignoranten, die Dynamischen wie die Trägen, die Liberalen wie die Radikalen -- sie sind alle grauenvoll -- und am schlimmsten sind die, die Kompromisse machen. Die werden nur noch von den Kompromißlosen übertroffen." (vg. u.a.:Haffmanns TB. 1990, Buchrücken, ausgeführter dann unter "Warum ich Misanthrop bin und bleibe" zu lesen! ebd. S.57f) Bisweilen könnte man bei seinen Ausführungen schon mal auf quasi "prophetische" Gaben schließen, aber es dürfte eher so sein, daß neben seinem weiten, aufmerksamen Wahrnehmungsvermögen so manche Dinge von einer (oft auch unliebsamen) Konstanz geprägt sind. So wenn er vor Jahren schon feststellen zu müssen glaubt "An der Macht sind Totalversager, die nichts im Griff und nichts begriffen haben". (vgl.: TB Warum ich trotzdem Seitensprünge mache,  dort die Entrüstung "Warum ich lieber hysterisch bin", S.110) Mir fallen jedenfalls in der Gegenwart so manche öffentliche Vertreter ein, die man leider so einschätzen kann ...

Durchaus Realitätsblick zeigt Joseph sehr häufig auch hinsichtlich Entwicklungssträngen, damit auch im Finden auf Fragen, wie konnte es soweit kommen. Stellvertretend aus seinem Buch "High Noon" (Hamburg 1994) sei in diesem Zusammenhang zitiert: "Jahrzehntelang wollten die Politärsche den konsumgeilen Bürgerkunden oder Kundenbürger. Damit die Wirtschaft in Schwung gehalten wird, sollte der einkaufen, was das Zeug hält und die Werbung verspricht, und sich ansonsten politisch zurückhalten. Und jetzt, mit einem Mal, gefällt das alte Idealmodell nicht mehr. Sie hatten sich den gesunden Egoisten herangezogen, vor dem bekamen sie plötzlich Angst. Jetzt krähten alle nach vollem Einsatz. Mach mit! Lebendige Demokratie! Pack an! Aber der Bürger ist verwöhnt. Warum soll er sich kümmern um jeden Scheiß. Er unterstützt das System hinreichend, indem er einkauf und bezahlt, findet er. (...) Aber man kann sich nicht aufblasen und auch noch Achtung und Engagement erwarten und das Ende der Selbstbedienungszeit verkünden. Dafür gibt es kein Mitmachen und kein Anpacken, sondern einen Arschtritt und sonst gar nichts. Es lebe der Supermarkt! (...) Die Gesandten nutzten die Unterbrechung und hielten mir (=Señor Donde, der diese Rede vor zwei "Gesandten" hält: "irgendwelche Heinis von einem mehr oder weniger gemeinnützigen Verein zur Verbesserung der Welt oder zumindest der Lebensbedingungen, die mich zu irgendwelchen guten Taten gewinnen wollten". vgl. High Noon, S.7) vor, ich predige genau jene Staatsverdrossenheit, die sie doch bekämpfen wollen. Ich sagte ihnen, daß ich das Gejammer über die Staatsverdrossenheit nicht mehr hören könne. Sie hatten nichts kapiert. Die Staats- und Polit- und Parteienverdrossenheit war eindlich ein Zeichen der Vernunft. Kein normaler Mensch interessiert sich freiwillig für die Schwachköpfe, die einen Staat regieren. (...) Ich fragte, warum die kümmerliche Abordnung hier nur aus zwei Männern bestünde, wo zum Teufel denn die Quotenfrau bliebe!" (High Noon, S.15ff.)

Auch bei der Namensfindung für seine Protagonisten zeigt Joseph von Westphalen großen Einfallsreichtum, dies zumeist auch mit hervorragend (zu-)treffenden Assoziationsmöglichkeiten. Man denke nur an den Diplomaten "Duckwitz" (Buch: Im diplomatischen Dienst) in seiner Duckwitz-Trilogie. Einfach lesen! Genial gemacht! Oder werfen wir abschließend (und gewiß irgendwie auch stellvertretend für die Bandbreite seines Einfallsreichtums hinsichtlich Schilderungen) einen kleinen Blick in sein "Die Memoiren meiner Frau" (München 2005): "Das deutsche Stimmungstief hatte Bruno erreicht. Kein Wachstum, kein Aufschwung, kein Konsum, keine Nachfrage -- er war ein Spiegelbild der Misere. Kein Krieg in der Nähe, keine Krankheiten, keine Terrorregime an der Macht. Nicht einmal ein Ehekrieg, man lebte gemütlich getrennt. Die Kinder gesund, ansehnlich, abgeschlossene Hochschulstudien, keine Bulemie, kein Aids, keine Drogenabhängigkeit, nicht schizophren geworden. Nur stehen sie eben immer noch nicht auf eigenen Beinen. Und diese Situation beelendete Bruno dermaßen, daß er alle Lebenslust verlor. Er wollte nicht immer noch der Ernährer sein. Tag und Nacht mußte er schreiben. Er wollte in Cafés gehen und vergessen, daß er nicht mehr der Jüngste war, und Frauen kennenlernen, aber er hatte weder Geld noch Zeit dafür." (S. 103)

Es gibt eben Literatur, die ist und bleibt zeitlos, man kann sie immer wieder lesen, bekommt neue / weitere Perspektiven dabei eröffnet, und dann gibt es solche, die man erst gar nicht in die Finger nehmen sollte -- vieles der sogenannten Promis und diverse klugscheißerische, vor- und angeblich die Lebensgestaltung erleichternde Sachbücher gehören zweifelsohne dazu! -- und wenn es doch geschehen sein sollte, darf man ruhig bei schnellem Erkennen, wo der Hase da im Pfeffer liegt, diese Ergüsse schnell entsorgen und sich die Zeit, sie bis zum bitteren Ende zu lesen, ersparen. Wie sich bei derartigen Fehlgriffen beruhigen? Damit, daß man eben eimmal mehr etwas Lehrgeld bezahlt hat (was bei den heutigen Buchpreisen leider zunehmend höher sein dürfte) und zweitens damit, daß man auch diesbezüglich immer wieder hinzulernen kann / muß / sollte. Übrigens auch in dieser Hinsicht wird Joseph von Westphalen sehr direkt indem er, gut begründet, Freiherr von Knigge zitiert: "Bei der Menge unnützer Schriften tut man übrigens wohl, ebenso vorsichtig im Umgange mit Büchern als mit Menschen zu sein. Um nicht zu viel Zeit mit Lesen unnützen Papiers zu verschwenden, das heißt: um nicht von Schwätzern mir die Zeit verderben zu lassen, suche ich auch von dieser Seite, nicht neue Bekanntschaften zu machen." Von Westphalen verweist in diesem Zusammenhang darauf, seiner Meinung nach wären "99 Prozent der heutigen Buchproduktion (...) Schrott", was allerdings auch bedeute, daß von "annähernd 100 000 neuen Titel pro Jahr immerhin runde "1000 Bücher (...) möglicherweise nicht ganz uninteressant" seien. Und er fährt fort: "Da wir aber auch arbeiten, lieben, essen, trinken, fernsehen, spazierengehen, schreiben, schlafen, reisen und alte Bücher lesen wollen, kann sich auch er Lesewilligste nicht viel mehr als 10 Bücher pro Jahr gründlich von innen ansehen. Das ist 1 Prozent der halbwegs beachtenswerten Literatur." (vgl. Haffmanns TB. 1990, "Warum ich lieber döse als lese", S. 155; Hervorhebung d.V.) und sicherlich passend verweist er noch auf Arthur Schoppenhauer: "Daher ist, in Hinsicht auf unsere Lektüre, die Kunst nicht zu lesen, höchst wichtig." (ebd.) Das ist freilich keine Absage an das Lesen schlechthin, sondern vielmehr die Forderung nach selektiver Auswahl, womit auch gemeint ist, den Marketingstrategen auf dem Buchmarkt und den Veröffentlichungsgeilen aka Selbstüberschätzeren, sowohl was deren persönliche Wichtigkeit als auch deren Sach- und schriftstellerkompetenz angeht, nicht auf den Leim zu gehen.

Wählen wir also stets sorgsam aus und halten wir es zumindest ein wenig auch mit Johann Wolfgang von Goethe: "Es ist ein großer Unterschied, ob ich lese zu Genuß und Belebung oder zu Erkenntnis und Belehrung." Und vor allem auch: mit Joseph von Westphalen. Immer wieder mal,

Nota bene: Ich war früher häufig in Griechenland, besonders oft auf Kreta. Einmal in Paleochora sah ich sitzen: Joseph von Westphalen mit Begleitung an einem Tisch in Strannähe. Sie ging immer wieder ihre eigene Wege, kam kurz zurück, verschwand dann wieder. Er blieb sesshaft, wirkte äußerst zufrieden, ausgeglichen und die Umgebung aufmerksam beobachtend. Abends in einer Taverne sah ich ihn erneut: er saß an einem Ecktisch im fernsten Winkel der Kneipe, rauchte, den Blick gelassen nach oben gerichtet, so als wollte er mit dem Göttervater Zeus oder einer anderen Gottheit Kontakt aufnehmen. Vielleicht auch einfach nur: still dasitzen und ein Stück angenehmes Leben genießen (wozu zumindest damals auf Kreta noch genügend Zeit und Raum war). Natürlich habe ich nicht den Kontakt zu ihm gesucht, obwohl ich es für mich hätte interessant vorstellen können. Aber man stört nicht die Privatheit anderer Menschen; vor allem gehören sie einem in keinster Weise. Es gibt bekanntlich auch: die stille Freude, das rücksichtsvolle Beobachten, das Akzeptieren von Zufällen, das Leben in Momenten.
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 Lassen Sie sich überraschen oder auch nicht ...